18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Wie wir träumen

von Frank Ufen

Wenn man träumt, träumt man dann in schwarz-weiß oder in Farbe? Die meisten Menschen geraten ins Grübeln, wenn sie mit dieser Frage konfrontiert werden. Doch nach den Erkenntnissen der britischen Psychologin Eva Murzyn hängt es in erster Linie von einem Umstand ab, ob im Traum nur Grautöne oder aber das gesamte Farbspektrum erlebt wird: Ob man mit dem Schwarz-Weiß-Fernseher oder mit dem Farbfernseher aufgewachsen ist. Vor der Erfindung von Fotografie, Film und Fernsehen hingegen sei es in Träumen ausnahmslos bunt hergegangen.
Der niederländische Psychologiehistoriker Douwe Draaisma nimmt in seinem neuesten Buch diese schlüssig klingende Hypothese nach allen Regeln der Kunst auseinander und fällt über sie ein vernichtendes Urteil. Laut Draaisma sprechen Psychologen und Psychotherapeuten erst seit den 1950er Jahren von schwarz-weißen Träumen. Davor sei es üblich gewesen, sie als grau, schwach oder schummrig beleuchtet zu charakterisieren oder sie beispielsweise mit monochromen Zeichnungen zu vergleichen. Draaisma weist des weiteren darauf hin, dass in der gesamten abendländischen Malerei von der Antike bis zur frühen Moderne gar nicht zwischen schwarz-weißen und farbigen, sondern zwischen monochromen und polychromen Werken unterschieden worden sei.
Darüber hinaus, erklärt Draaisma, hat die Schwarz-Weiß-Fotografie streng genommen im 19. Jahrhundert noch ebenso wenig existiert wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich schimmerten die Fotos aus jener Zeit silbrig, rosa und gelb. Erst seit sich die Farbfotografie überall durchgesetzt habe, spreche man überhaupt von der Schwarz-Weiß-Fotografie. Draaisma verweist sodann auf die Befunde der Statistik. Demnach tauchen die Farben Weiß, Schwarz, Rot, Blau, Gelb und Grün in Träumen am häufigsten auf. Doch genau aus diesen sechs elementaren Farben mischt das Gehirn sämtliche Farbtöne zusammen – und nicht zufällig tauchen die ersten beiden dieser Farben in allen Sprachen auf, die nur zwei Farbbegriffe kennen, bei Sprachen, die über drei Farbbegriffe verfügen, gehört immer Rot dazu, und so weiter.
Wenn man glaubt, resümiert Draaisma, dass Träume so etwas wie Filmvorführungen im Kopf sind, lässt man sich von Metaphern in die Irre führen. In Wahrheit würde das Erleben von Träumen etwa solchen ziemlich vagen und schematischen Vorstellungen entsprechen, die sich typischerweise einstellen, wenn man einen Roman liest. Und hierbei würden Farben oft überhaupt keine Rolle spielen.
Sie kommen häufig vor und gehören zu den seltsamsten und am wenigsten erforschten Träumen überhaupt: Man träumt, in unmittelbarer Nähe einer Ansammlung wildfremder Menschen zu sein. Plötzlich wird man sich des Umstands bewusst, dass man ganz oder teilweise nackt ist, wohingegen alle anderen vollständig bekleidet sind. Doch merkwürdigerweise scheint niemand davon die geringste Notiz zu nehmen, und man selbst kommt nicht auf den Gedanken, nach einem Ausweg aus der peinlichen Situation zu suchen. Danach brechen solche Nacktträume immer abrupt ab, und immer fehlt ihnen eine Vorgeschichte, aus der man selbst erfährt, wie man seine Klamotten verloren hat und wo sie geblieben sind.
Was es mit diesen Nacktträumen auf sich hat, ist nach wie vor nicht geklärt. Freud vermutete, dass ihnen der infantile Wunsch zugrunde liegen dürfte, zur unschuldigen paradiesischen Nacktheit der frühen Kindheit zurückkehren zu können. Draaisma hält diese Erklärung schon deswegen für nicht schlüssig, weil Freud fälschlicherweise unterstellt hat, dass jeder Mensch hin und wieder einen Nackttraum erleben würde. Ebenso wenig schlüssig ist in Draaismas Augen die Hypothese des russischen Philosophen Oupensky, wonach Nacktträume immer dann erlebt werden, wenn Träumende während ihres Traums keine oder fast keine Kleidung tragen.
Douwe Draaisma beschäftigt sich außerdem mit Flugträumen, Klarträumen und Prüfungsträumen. Er versucht sowohl Alpträumen als auch sexuellen Träumen auf den Grund zu kommen. Er befasst sich mit der Frage, worin sich die Träume Blinder von denen Sehender unterscheiden. Er setzt sich mit den Verfechtern der Auffassung auseinander, dass es Träume gäbe, in denen zukünftige Ereignisse präzise vorausgesagt werden würden. Und er bemüht sich zu erschließen, in welcher Geschwindigkeit Traumereignisse ablaufen.
In diesem Buch wird eine ungeheure Menge von Fragen aufgeworfen, darunter etliche, die nur stellen kann, wer mit der Geschichte der Traumforschung derart gut vertraut ist wie Draaisma. Dass der Autor längst nicht alle beantwortet, kann man ihm nicht ankreiden. Allenfalls kann man ihm vorwerfen, an einigen Stellen nicht genügend zwischen Träumen und Traumberichten differenziert zu haben.
Douwe Draaisma erweist sich ein weiteres Mal als exzellenter Geschichtenerzähler und als exzellenter Rechercheur, der fast auf jeder Seite mit verblüffenden Erkenntnissen und Informationen aufwartet. Eines der originellsten und aufschlussreichsten Bücher zur Traumforschung überhaupt.

Douwe Draaisma: Wie wir träumen, Galiani Verlag, Berlin 2015, 320 Seiten, 22,99 Euro.