von Werner Sohn
Man gesteht es sich nicht gerne ein, aber eigentlich wissen es doch alle: dass unser Meinen über etwas, so „höchstpersönlich“ es sich auch bei Bedarf anzukündigen pflegt, nur in einem sehr vermittelten Sinne „von uns“ ist. Streng genommen gar nicht. Aber ganz so streng wollen wir hier nicht auftreten.
Sich eine Meinung über etwas zu bilden, heißt tatsächlich, sich auf einem Meinungsmarkt zu bedienen. Der Erwerb ist meist kostenlos, wenngleich nicht folgenlos. Auf dem Meinungsmarkt herrscht Freiheit des Angebots in den Grenzen der jeweilig herrschenden Zulässigkeit. Das erscheint vordergründig als Widerspruch, entspricht aber nur den inneren Schranken des Freiheitsbegriffs, der kein beliebiges Tun und Lassen begründet. Man kann sich über alles, aber nicht in jeder Weise eine Meinung zu bilden erlauben.
Die Abhängigkeit unserer Meinungsbildung von den großen gesellschaftlichen Meinungsbildnern ist offenkundig und wird zumeist nicht als bedenkliche Beeinträchtigung individueller Selbstbestimmung gesehen. Niemand ist gezwungen, sich über eine Sache eine bestimmte Meinung zu eigen zu machen. Im Grunde ist er frei darin, die Annahme von Meinungen abzulehnen, sogar en gros. Er kann die Aneignung ablehnen, ohne die konkrete Meinung ablehnen zu müssen. Gewiss ist dies eine Meinung, die man haben kann, sagt er sich vielleicht, womöglich eine respektable. Wenn ich mich recht verstehe – und wie sollte ich das bezweifeln –, kann ich diese Meinung zurzeit nicht teilen. Ich betrachte sie von mehreren Seiten und finde keinen zureichenden Grund, sie fortan als die meinige zu vertreten. Ich benötige sie nicht, denn das und das so und so zu meinen, verändert mein Tun und Lassen nicht. Magst du (Meinungsbildner, Meinungsanbieter) sie also fürs Erste im Verhältnis von uns beiden allein als die deinige ansehen. Erleichtert könnte er sich abwenden. Wieder eine Meinung, die er nicht haben und – gegebenenfalls noch schlimmer – bekunden muss!
Man sollte die Sphäre der Meinungen danach unterscheiden, ob aus ihnen ein Handeln, beziehungsweise bewusstes Unterlassen folgt oder nicht. Um die ersteren müssen wir uns kümmern. Die zweite Gruppe ist irrelevant. Die griechischen Stoiker hätten sie als „Adiáphora“ bezeichnet. Das aus einer Meinung hervorgehende Tun beeinflusst mich oder andere. Eine Meinung darüber, ob es in den nächsten Stunden regnen könnte, ist relevant, wenn ich zum Beispiel einen Spaziergang plane. Meine Ansicht darüber, ob die Eurozone in absehbarer Zeit wirtschaftlich kollabieren könnte, ist irrelevant, sofern ich daraus nicht ableite, bestimmte Vorkehrungen zu treffen. Mit dieser Einteilung können wir uns vom allgegenwärtigen Druck, eine Meinung zu haben und gegebenenfalls auch noch kundzutun, entlasten. Denn es ist klar: Wer eine Meinung auf sich genommen hat, wird – sofern es sich um eine im Rahmen des Erlaubten handelt – kaum der Versuchung widerstehen können, sie auch zu vertreten. Echte Meinungsfreiheit bedeutet immer auch: sich frei machen von Meinungen und vom Meinen müssen.
Zugegeben, das fällt schwer. Man empfindet allenthalben einen Meinungszwang, dessen Nötigung durch pädagogische Imperative in der Schule schrittweise aufgebaut und mit dem Schein eines hohen Wertes versehen wurde. Jugendliche, die keine irrelevanten Meinungen haben und vertreten wollen, können ihre zu erwartenden schlechten Noten mit Leistungen in von Meinungen weitgehend freien Fächern kompensieren. In der Freizeit diskutieren sie gleichwohl handlungsrelevante Meinungen, zum Beispiel ob „Bushido“ besser sei als „Eminem“ oder dieser gegebenenfalls „Haftbefehl“ vorzuziehen oder gar ganz andere Musik nun angesagt sei. Ob sie das wirklich mit viel musikgeschichtlicher Sorgfalt tun, darf bezweifelt werden. Denn die Neigung ist ausgeprägt, das Flanieren über den Meinungsmarkt auf das Segment des Modischen zu begrenzen. Der Grund liegt darin, dass Meinungen nicht nur Handeln hervorbringen, sondern auch Zugehörigkeit ausdrücken. Der Sozialphilosoph Arnold Gehlen hat daher nur bedingt recht, wenn er meint, dass die Meinung dem Meinenden das Gefühl gebe, etwas Besonderes darzustellen und vor allem daher begehrt werde. Das geschieht wohl auch. Zugleich aber stellt sich der Meinende in eine Gruppe von Gleichmeinenden und hebt damit seine exquisite Position wieder auf. Beim öffentlichen Meinungskonzert kann er allenfalls durch expressives Geschick und geschmeidigen Umgang mit dem stehenden Vorrat beliebter – manchmal auch beliebig wirkender – Ansichten und Bekenntnisse seine Besonderheit wiederherstellen. Freilich birgt dies gewisse Risiken, und der Grat zwischen rhetorischer Bravour und bloßem Nachplappern kann schmal sein. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, warum das Vertrauen in Politiker seit vielen Jahren sinkt. Einzuräumen ist, dass es beim meinungsfixierten Publikum wohl sehr schlecht ankäme, würde ein Politiker einmal die Freiheit in Anspruch nehmen, zu einer Sache, die er sowieso nicht beeinflussen kann oder möchte, keine Meinung zu haben oder haben zu wollen.
Für die stoische Philosophie ist eine Geringschätzung des Meinens charakteristisch. Der Weise bildet sich keine Meinung, soll der Begründer Zenon festgelegt haben. Im Übrigen ist er – den berichtenden Cicero etwas frei interpretiert – stur, ignorant und arrogant, denn entweder weiß er oder er weiß nicht. Im zweiten Fall hält er den Mund und enthält sich jeglicher Bewertung. Dass unser Wissen in der Regel nur ein Vermuten ist, war diesem Typus eines stoischen Weisen noch nicht bewusst. Zumeist wird er daher geschwiegen und sich also auch nur selten um Kopf und Kragen geredet haben. Noch folgenschwerer wird das bloße Meinen für den Philosophen, wenn er dem Drang zur Niederschrift nicht widerstehen kann. Was über den etwa von Boëthius überlieferten philosophischen Wert des Schweigens gilt, trifft umso mehr auf den des Nichtschreibens zu. Du „mit deinen aufgeschriebenen Sächelchen“, spottet der freigelassene Sklave Epiktet über die philosophischen Traktate seiner eifrigen Schüler.
Von wenigen Ausnahmen wie etwa dem Ex-Profiboxer Chrysippos abgesehen, haben stoische Philosophen auf schriftliche Hinterlassenschaften keinen Wert gelegt. Kaiser Mark Aurels „Selbstbetrachtungen“ hat er, in langen Nächten schier endloser Feldzüge über das richtige Leben sinnierend, für sich selbst geschrieben. Das „Handbüchlein“ und die „Unterredungen“ Epiktets hat ein Schüler (Arrian) nach eigenem Hören verfasst. Vielleicht war die Zurückhaltung der alten Stoiker auch darin begründet, dass die Nachwelt über ihre philosophischen Werke ganz ähnlich verfahren könnte, wie sie selbst über die Meinungen. Abweisend. Hierzu muss freilich Epiktet den vielleicht bemerkenswertesten Satz der gesamten stoischen Philosophiegeschichte formuliert haben: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie.“ Epiktets Lieblingsbeispiel hierfür ist der Tod, von dem man im Allgemeinen glaube, er sei etwas Furchtbares. Des Sokrates Meinung war jedoch eine andere, sodass er den ihm per Gerichtsurteil auferlegten in größter Gelassenheit erwartete. Daher könne er an sich nichts Beunruhigendes darstellen.
Die Lehre des Epiktet stieß in der Geschichte nicht nur auf Beifall und Zustimmung, sondern provozierte auch den Vorwurf der Gefühllosigkeit. Heute wird man überdies konzedieren, dass gerade die Meinungen über den Tod, dem unbezweifelbarsten Ereignis unseres Daseins, recht verschieden sein können. Mancher wird ihn als Erlösung von unerträglichem Leiden herbeisehnen und sogar herbeiführen. Einige lieben ihn, weil er das Tor zum Paradies sein könne. So schrieb der islamistische Terrorist Mohammed Merah den Ungläubigen ins Stammbuch: „J‘ aime la mort comme vous aimez la vie.“ Nach der hier skizzierten Philosophie des Meinens ist Merahs Meinung über seinen Tod relevant, ebenso die des Sokrates. Unsere, die wir das Leben lieben und es solange wie möglich erhalten wollen, nicht. Daher können wir mit gutem Gewissen auf eine Meinung über den Tod verzichten. Und so lässt sich mit allen irrelevanten Meinungen verfahren.
Werner Sohn, Jahrgang 1950, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden.
Schlagwörter: Etikett, Meinungsfreiheit, Stoizismus, Werner Sohn