18. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2015

Unterwerfung – ein europäisches Szenario

von Ulf Baumann

Ein Schriftsteller, der es vermag, die Verachtung der Mächtigen hervorzurufen, macht seine Arbeit. Es ist jene Verachtung, die als Abscheu entsteht, den die Abstoßenden empfinden mögen, wenn ihnen ein kundiger Literat das Hässliche ihrer Gestalt im Spiegel präsentiert.
Der Schriftsteller, um den es geht, ist Michel Houellebecq. Sein Roman „Unterwerfung“, der erschien, als islamische Terroristen die Redakteure des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Namen Allahs des Barmherzigen abschlachteten, trug ihm umgehend die offizielle Verdammung durch den Premierminister der Republik ein.
„La France ce n’est pas Michel Houellebecq […] ca n’est pas l’intolerance , la haine, la peur“*, verkündete Manuel Valls in diesen unglückseligen Tagen in seinem erhabenen Französisch, um Houellebecq damit nicht nur eine geistige Mitverantwortung für den Terror zu zuschieben, sondern ihn im Namen des ehrwürdigen Prinzips der Toleranz symbolisch aus der Gemeinschaft der anständigen Franzosen auszuschließen. Werden wir je wieder einen lebenden deutschen Autor haben, der die Herrschenden so zu provozieren vermag?
Die Handlung des Romans „Unterwerfung“ findet im Frankreich des Jahres 2022 statt, doch es ist ein Buch über Europa. Sein zentrales Ereignis ist der Wahlsieg von Mohammed Ben Abbes, des Chefs der französischen Muslimbrüder, was Houellebecq keineswegs als die „Schreckensphantasie“ präsentiert, die Sandra Kegel in der FAZ darin ausmachte. Vielmehr entscheiden sich die Repräsentanten der einstigen Mehrheitsparteien der Republik – die Sozialisten und die Konservativen – Ben Abbes, der es als Zweitplatzierter in die Stichwahl gegen die Rechtsradikale Marine le Pen geschafft hat, auf den Schild zu heben. Es geht ihnen dabei nicht um die Verteidigung der Republik, sondern um Frankreichs Verbleib in der EU. Le Pen ist gegen die EU und den Euro, Ben Abbes dafür. Im Gegenzug lassen ihm die alten politischen Eliten freie Hand in weiten Teilen der Innenpolitik.
Das Szenario der islamistischen Machtübernahme im Mutterland der Aufklärung wird aus der Perspektive des 43-jährigen Francois, eines Literaturwissenschaftlers an der Sorbonne, erzählt. Zwar schockiert ihn zunächst die „Schlaffheit“ seiner Kollegen, die auch nach dem politischen Erdbeben in Paris unerschütterlich an die Unantastbarkeit ihrer akademischen Privilegien glauben. Für den abgeklärten Francois ist die Literaturwissenschaft ohnehin zu einem Instrument „in der Industrie der Luxusgüter“ degeneriert. Ein „Abschluss in Literaturwissenschaften“ ist nur „zusätzlicher Pluspunkt“ für ein „junges Mädchen, das sich als Verkäuferin bei Celine oder Hermes bewirbt“. Für Francois selbst ist die Literatur dagegen der individuelle Rückzugsraum, wo er mit seinem längst verstorbenen geistigen Gefährten, dem zum Katholizismus konvertierten Romancier Joris-Karl Huysmans (1848-1907), über den Sinn des Lebens und die Haltungslosigkeit des linksliberalen intellektuellen Milieus räsoniert. Stärker noch, als er es in seinen anderen Romanen getan hat, rechnet Houellebecq, mit diesem Milieu ab.
Denn die Unterwerfung, um die es Houellebecq geht, ist die mal larmoyante, mal nörgelnde Willfährigkeit, mit der sich die akademischen Eliten mit den neuen Machthabern arrangieren. Die Muslimbrüder stellen die französischen Hochschullehrer vor die Wahl, entweder zum Islam zu konvertieren oder in den Ruhestand zu gehen. Eine Wahl, die ihren Kolleginnen nicht gelassen wird. Francois wählt den Ruhestand, flieht aufs Land und geht schließlich auf den Spuren Huysmans wandelnd, ins Kloster.
Es ist viel darüber diskutiert worden, ob Houellebecq, dem gelegentlich eine reaktionäre Gesinnung und eine Nähe zur neuen Rechten unterstellt wird, hier Katholizismus schlechthin als Alternative zur modernen Gesellschaft und als spirituelles Bollwerk gegen die Islamisierung des Abendlandes anbietet. Doch Houellebecq hält den spirituellen Sinnsuchern vor allem süffisant den Spiegel vor. Er spielt gekonnt mit den religiösen Gefühlen, um am Ende zum ideologischen Punkt zu kommen. Als Instrumente einer politischen Herrschaft, die sich gegen Moderne, Aufklärung und Emanzipation richten, sind,, Katholizismus und Islam „Schwesterreligionen.“ Denn die Muslimbrüder setzen unter öffentlichen Beifall ein Programm durch, das die traditionelle christlich-konservative Rechte schon immer herbeisehnte: Abschaffung der Homo-Ehe, Verdrängung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt, Privatisierung der weiterführenden Bildung, die Säuberung der Hochschulen von Gender-Studies und Feminismus.
Robert Rediger, der neue, zum Islam konvertierte Rektor der Sorbonne, der als Freund und Förderer von Francois dessen Reaktivierung für den ideologischen Staatsapparat des neuen Regimes betreibt, spricht Klartext: Der Katholizismus, des christlichen Mittelalters habe „nach und nach an Boden verloren, habe Kompromisse mit dem Rationalismus eingehen und darauf verzichten müssen, sich die irdische Macht zu unterwerfen“. Die Feindseligkeit der christlichen Rechten gegen den Islam sei irrational, da sie sich mit ihm „in wesentlichen Punkten im völligen Einklang“ befinden – so im Hinblick auf die „Ablehnung von Atheismus und Humanismus“, die notwendige Unterwerfung der Frau und die Rückkehr des Patriarchats“. Für Francois hat die Aussicht, seine alte Arbeit mit opulenter Bezahlung und längst als verloren angesehenen Karrierechancen wieder aufzunehmen, etwas Entspannendes. Er denkt kurz an seine jüdische Freundin Myriam, die wie viele Juden aus Frankreich emigriert ist, während ganz Europa voll Erstaunen über den moderaten muslimischen Präsidenten spricht, der sogar Escortservices erlaubt und den Staat Israel nicht behelligt.
Mit der Aussicht, den Islam als neue Mittelstandsreligion des weißen Mannes zu adaptieren, lässt Houellebecq die Geschichte des Francois enden. „Einige Monate später wäre wieder Vorlesungsbeginn, und natürlich wären die Studentinnen hübsch, verschleiert, schüchtern. Jede dieser jungen Frauen … wäre stolz und glücklich, von mir auserwählt zu werden“, glaubt Francois, der immer ein Problem mit seinen selbstbewussten Geliebten hatte, die ihre Affären mit ihm nach jeweils einem Semester zu beenden pflegen. „Ich hätte nichts zu bereuen.“
Und auch die Aussichten von Mohammed Ben Abbes entwickeln sich glänzend, seine Schwesterparteien übernehmen ein europäisches Land nach dem anderen. Er selbst wird Präsident der Europäischen Union, deren Hauptstadt er nach Athen verlegt und deren Erweiterung um die muslimischen Mittelmeeranrainerstaaten sein strategisches Projekt ist, das die EU endgültig aus der außenpolitischen Abhängigkeit von den USA herausführen soll.
Houellebecq entwickelt dieses Szenario im Plauderton des politischen Salons und in einem strikten Materialismus, den nicht alle deutschen Rezensenten aufgreifen mochten, da sie lieber, der romantischen Tradition folgend, die Gründe für den Aufstieg des Islamismus einem Mangel an „Visionen“ der politischen Klasse zuschreiben. Zwar widert auch Houellebecq die geistige Austauschbarkeit der sich an der Macht abwechselnden Mitte-Links und Mitte-Rechts-Konstellationen an, Doch der Ansatzpunkt für den politischen Regimewechsel ist die massenhafte Abwendung einer der Arbeitslosigkeit und der Gewalt der Vorstädte überlassenen Bevölkerung, die für eine linksliberalen Medienelite und eine „agonisierende Sozialdemokratie“ jegliche Empathie verloren hat, denen es unmöglich geworden ist, „sich in die Perspektive solcher zu versetzen, die von diesem System nie etwas zu erwarten hatten“. Houellebecq polemisiert hier gegen eine marktkonforme Linke, die ihre Ideen verraten hat und der sich im Lande „schicksalhaft ausbreitenden“ Massenarmut gleichgütig gegenübersteht. Für ihn wird der Aufstieg der Muslimbrüder möglich, weil sie sich der sozialen Frage zuwenden und ideologische Ballast in Form eines „misslichen Antisemitismus“ über Bord werfen. Sie verlagern ihre Politik in ein „dichtes Netz von Jugendverbänden, Kultureinrichtungen und karitativen Institutionen“, das dem „Vorbild der früheren kommunistischen Partei nicht unähnlich“ ist. So gewinnen sie immer mehr nicht-konfessionelle Wähler und werden zu dem Machtfaktor, der es ihnen schließlich ermöglicht, einen Deal mit den politischen Eliten einzugehen, die ihr Geschäftsmodell der Europäischen Union retten wollen. Zugleich beseitigt Ben Abbes die Arbeitslosigkeit, in dem er das Ausscheiden von Frauen aus der Erwerbsarbeit durch staatliche Familienhilfen belohnt. Dies wird durch die Schrumpfung des öffentlichen Bildungsetats um 85 Prozent finanziert, womit Ben Abbes den Staatshaushalt konsolidiert und damit ein Sehnsuchtsziel aller Liberalen erfüllt.
Das ist der doppelte Charakter der Unterwerfung in Houellebecq Erzählung. Der politische Islam unterwirft sich dem neoliberalen Modell, dessen Repräsentanten ihrerseits kein Problem damit haben, die letzten Reste von Egalité und Fraternité über Bord zu werfen, denn unter dem Paternalismus islamischer Prägung wird die Sozialpolitik in die Familie re-exportiert, um dort für immer zu bleiben. Das ist in der Tat eine Vision, nämlich die einer entsolidarisierten Gesellschaft.
Und gerade in diesen Tagen – angesichts des Diktates, dem sich Griechenland unterwerfen soll – drängt sich die Frage auf, ob eine derart entsolidarisierte Gesellschaft nicht das eigentliche Ziel ist, das die europäischen Eliten verbindet.
Zweifellos ist Houellebecqs Roman ein Werk der Verachtung. Diese richtet sich jedoch nicht gegen die muslimische Bevölkerung Europas, nicht gegen die Schwachen. Sie trifft vielmehr den Opportunismus der Oberschicht. Und sie richtet sich gegen das politisch haltungs- und verantwortungslose postmoderne Individuum, das gern über die persönliche Freiheit schwadroniert, die Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze aber an die Betriebsleitung delegiert und dessen politische Impotenz den Gedanken an Widerstand als absurd erscheinen lässt.

*„Frankreich, das ist nicht Michel Houellebecq […] das ist nicht Intoleranz, der Hass, die Angst.“

Michel Houellebecq: Unterwerfung, DuMont Buchverlag, Köln 2015, 280 Seiten, 22,99 Euro.