von Thomas Zimmermann
Ernst Kreuder steht wie kein anderer deutscher Schriftsteller für den literarischen Neuanfang nach 1945. Mit der Erzählung „Die Gesellschaft auf dem Dachboden“ aus dem Jahr 1946 zeichnete der Zeitzer nicht nur einen fantasievollen Abriss der Nachkriegsgesellschaft, er führte auch die deutsche Literatur wieder einer internationalen Leserschaft zu: Kreuders Erzählung wurde als erstes deutschsprachiges Werk nach 1945 übersetzt, erschien in englischer, französischer und schwedischer Sprache und brachte ihrem Verfasser 1953 den renommierten Georg-Büchner-Preis ein.
Als Mitglied der elitären Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, bekannt mit literarischen Größen wie Alfred Döblin, Hans Erich Nossack sowie Hans Henny Jahnn, und als literaturwissenschaftlicher Essayist galt Kreuder in den Nachkriegsjahren als einer der wichtigsten, auch international beachteten Repräsentanten einer neuen Generation deutscher Autoren. Doch der Stern begann bald nach seinem Aufstieg wieder zu sinken. Er geriet in Vergessenheit und ähnlich wie sein Spätwerk liegen bis heute auch Kreuders literarische Anfänge im Dritten Reich noch weitestgehend im Dunkeln.
Geboren wurde Ernst Kreuder als Sohn eines Ingenieurs am 29. August 1903 in Zeitz, wuchs dort sowie in Offenbach auf und studierte im Anschluss an eine Banklehre Philosophie, Literaturwissenschaft und Kriminologie in Frankfurt am Main. Im Zuge der Inflation von 1923 hatte die Familie ihr Vermögen, von dessen Erträgen sie gelebt hatte, verloren. Aus diesem Grund musste Kreuder sein Studium vorzeitig abbrechen, worauf er sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchschlug.
Allmählich etablierte er sich abseits der Arbeiten in Häfen, auf Baustellen und Friedhöfen als Feuilletonist. Seine Gedichte und Kurzgeschichten erschienen neben den Reisereportagen Joseph Roths in der Frankfurter Zeitung und ab 1932 auch in der namhaften Satirezeitschrift Simplicissimus. Am Ende der Weimarer Republik hatte sich der junge Kreuder erfolgreich in die erste Reihe des literarischen Nachwuchses geschrieben, da kündigte sich jedoch schon der politische Umbruch an.
Wie bei so vielen Autoren, die nach 1933 in Deutschland blieben, legte sich später Dunkelheit über die Jahre im NS-Staat. Selten trat ein Schriftsteller wie Erich Kästner so offen wie verlogen an die Öffentlichkeit: Er hatte behauptet, zwölf Jahre für die Schublade geschrieben zu haben, während er doch unter Pseudonymen ganz gut am ablenkenden Unterhaltungswillen und den literarisch wie filmisch inszenierten Durchhalteparolen der Nazis mitschrieb und mitverdiente.
Kreuders Leben und Schaffen in der NS-Diktatur weist dieselbe Diskrepanz zwischen Sein und Schein auf: Will man dem Autor selbst Glauben schenken, so wurde er als Feuilletonist noch 1933 entlassen und verlegte sich daraufhin auf unpolitische, „mehr oder weniger dämliche“ Erzählungen, die er allerorts feilbot – etwa bei der Kölnischen Zeitung –, um sich wirtschaftlich über Wasser zu halten. Doch auch seine unpolitischen Texte waren noch zu kritisch, der Autor zu sehr als widerborstiger Zeitgenosse bekannt: Kreuder war zeitweilig von der Wohlfahrtshilfe abhängig.
Die Forschung sieht diese Angaben längst äußerst kritisch. So fiel Kreuder keineswegs sofort nach der „Machtergreifung“ in Ungnade, sondern schrieb noch bis 1936 für den Simplicissimus – was fraglos gerade in einem Satireblatt nicht ohne weite Zugeständnisse möglich war. Und zu einer derartigen Anpassung war Kreuder offenbar durchaus gewillt, wie sein schriftstellerisches Portfolio dieser Jahre erahnen lässt: So veröffentlichte er zwischen 1934 und 1936 insgesamt 508 Texte und erzielte damit ein äußerst überdurchschnittliches Jahreseinkommen von bis zu 3500 Reichsmark. Kreuders angepasste Schreibe war entgegen seiner späteren Darstellung recht populär, der Erzählband „Die Nacht des Gefangenen“ (1939) erschien 1941 in der zweiten Auflage.
1940 wurde Kreuder als Flakartillerist eingezogen und geriet 1945 für 57 Tage in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Anschließend setzte er trotz seiner schriftstellerischen Zuarbeit im NS-Staat seine literarische Laufbahn mit einer Reihe größerer Erzählungen ungebrochen fort. So erschienen nach der „Gesellschaft auf dem Dachboden“ (1946) „Schwebender Weg“ und „Die Geschichte durchs Fenster“ (beide 1947), „Die Unauffindbaren“ (1948) und „Herein ohne anzuklopfen“ (1954).
Mit diesen Texten, die nach wie vor fleißig nachgedruckt werden, beschrieb Kreuder den Höhepunkt seines literarischen Schaffens. Allein die „Gesellschaft auf dem Dachboden“ wurde 100.000-fach verlegt.
Bald nach der Stunde null aber setzten sich realistischere, auch zukunftsorientiertere Autoren wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll und Günter Grass gegen den in märchenhaften Ausfluchten verharrenden Kreuder durch. Seine späteren Erzählungen wurden kaum noch zur Kenntnis genommen, der Rowohlt-Verlag trennte sich nach 1954 von seinem unpopulär werdenden Autor, ein Verriss von Arno Schmidt besiegelte die plötzliche Unzeitgemäßheit von Kreuders Werk.
Der Schriftsteller versuchte sich zuletzt an anderen Textformen, schrieb eine Abenteuergeschichte für Kinder und Gedichte wie zu Beginn seiner Laufbahn. Eine gewisse Resonanz erzielte jedoch nur noch der Sammelband „Tunnel zu vermieten“ (1966), der 1970 in zweiter Auflage erschien. Am 24. Dezember 1972 verstarb Kreuder in Darmstadt, erst fünf Jahre darauf setzte nach der Wiederentdeckung der „Gesellschaft auf dem Dachboden“ deren zweiter, bis heute anhaltender Erfolg ein, demgegenüber die politische Vergangenheit des Autors nahezu vollständig in den Hintergrund der Rezeption trat. Wie bei Kästner.
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