18. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2015

Querbeet (LVIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Mohr in Milano, Operetten-Show in Mörbisch für Massen und im Berliner Monbijou ein „Hamlet“ für Drei…

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Der flotte alte Herr mit strenger Onkel-Doktor-Brille, Zottelbart und Basecap lümmelt lässig im Café Duomo (die Cola zehn Euro), rührt genüsslich seinen Cappuccino und erfreut sich „an der warmen Luft hier“ sowie am „fantastischen“ Ausblick aufs Marmorgebirge des Mailänder Doms. Derart entspannt präsentierte kürzlich in seiner „Abendschau“ das hauptstädtisch öffentlich-rechtliche Lokalfernsehen den Intendanten der Berliner Staatsoper Jürgen Flimm.
Aha, er macht also Ferien vom kräftezehrenden Amt, das er – mit 77 Jahren – 2018 abgeben wird an Matthias Schulz, bisher Geschäftsführer der Stiftung Mozarteum Salzburg. Doch bereits am 1. März nächsten Jahres wird Schulz, studierter Pianist und Volkswirt (tolle Kombination), als „designierter Intendant“ antreten, um ab dem 1. September 2017 als „Ko-Intendant“ sich die Führungsverantwortung zu teilen mit Flimm, bis er endlich am 1. April 2018 die Alleinherrschaft bekommt. So läuft hier in der Hauptstadt das nicht eben kostengünstige Prozedere um die Hochkultur-Spitze. Was wohl zum einen damit zu tun hat, dass die Staatsoper Ende 2016 (so der gegenwärtige Planungsstand) endlich ihr immer wieder verlängertes Ausweichquartier Schillertheater verlassen und umziehen kann in ihr bis dato nach Jahre langer Verzögerung durch bautechnische Pannen nebst Kostenexplosion hoffentlich fertig saniertes historisches Stammhaus Unter den Linden. Das nämlich möchte Flimm noch als Chef erleben. Zum anderen verschafft Schulzens zweijährige „Einarbeitungszeit“ dem Senior-Boss genug Luft, sich quasi nebenher als Regisseur zu produzieren. Allein in der kommenden Spielzeit will er schnell noch drei Opern inszenieren. Doch schon jetzt scheint für den greisen Hans-Dampf die Luft nicht sonderlich knapp zu sein, denn alles Wichtige entscheidet wohl ohnehin Super-Boss Barenboim als Generalmusikdirektor. Und so läuft der Berliner Laden im Wesentlichen auch ohne Flimm. Da hat er genug Muse, gleichsam als Ferien-Ersatz, aushäusig am Teatro alla Scala „Otello ossia il Moro di Venezia“ von Gioachino Rossini zu inszenieren. Und zwischendurch gelassen im Cappuccino zu rühren.
Rossini (1792-1868), der nicht nur durch das nach ihm benannte Rinderfiletsteak mit Gänseleber berühmt ist, sondern vor allem als fleißiger Tonsetzer zahlreicher Opern (39 in zwanzig Jahren) sowie als weltmeisterlicher Komponist für Belcanto, dem so himmlischen Schöngesang, der auf raffinierteste Weise aus irdischer Dramatik erblüht. Eine Herausforderung für jeden Regisseur nachzuhelfen, damit die Kehlkopfakrobatik der Sänger die Konflikte zwischen ihren Figuren nicht gänzlich verdrängt. Sonst könnte man die Oper ja gleich in den Konzertsaal verlegen …
Hätte man können; denn als Herausforderung hat Flimm den „Otello“, trotz wochenlanger Arbeit unter südlicher Sonne (oder gerade deshalb?), offensichtlich nicht begriffen. Dabei galt dieser Regisseur, lang ist’s her, als Aufmischer des Theaters. Doch jetzt wird nicht mehr aufgemischt, um gewisse Gegenwärtigkeiten zu provozieren, sondern ausgeruht. Was immerhin der versammelten Gesangstruppe von Weltklasse-Könnern rein technisch zugutekommt: Sie dürfen geruhsam an der Rampe stehen und in Uropas Opernposen ihre wahrlich schwierigen, aber hinreißenden Arien schmettern, was ja durchaus allerhand Effekt macht.
Und doch ist es schade. Weil: Dieser 1816 in Neapel uraufgeführte „Otello“ steht bis heute im Schatten von Verdis siebzig Jahre später komponiertem „Otello“, einem Blockbuster des italienischen Opernrepertoires. Hörbar eine Ungerechtigkeit! Zwar entfernten sich Rossinis Librettisten (im Gegensatz zum Texter Verdis) ziemlich weit von Shakespeare, indem sie dessen Polit-Thriller zur Lovestory von drei Männern (Otello, Rodrigo, Jago) zu einer Frau (Desdemona) verkürzten. Doch Rossini nutzte virtuos die Chance, gleich drei konfliktbeladene Ritter vom hohen C spektakulär in den Ring zu schicken. Folglich gibt’s da einiges zu erleben! Man erlebte es seit 140 Jahren in Mailand nicht mehr und auch anderswo nur selten, was diese Rossini-Ausgrabung der Scala so verdienstvoll macht – und das Versagen der Regie umso ärgerlicher. Schließlich verpasste sie in ihrer Gleichgültigkeit die Gelegenheit, das einigermaßen vergessene Meisterwerk Rossinis am ersten Opernhaus Italiens wieder überzeugend ins rechte Licht zu rücken und zurück zu holen in die Charts des globalen Musiktheaterbetriebs.
Zu dieser Misslichkeit gehört auch das ausdruckslose Bühnenbild. Es zeigt, nach einer, wie es heißt, Skizze des immerhin weltberühmten deutschen Malers und Bildhauers Anselm Kiefer, einen von Stoffbahnen begrenzten Leer-Raum, gefüllt mit Batterien von Baumarkt-Gartenstühlen. Immerhin steckt im Kostümbild von Ursula Kudrna eine kleine Idee: Die Gesellschaft (Chor), also das venezianische Establishment, paradiert steif in Frack und Biedermeier-Kreolinen, auch die Herren Jago und Rodrigo kommen in korrektem Schwarz-Weiß. Allein Otello und Desdemona, bei Rossini heimlich verlobt, erscheinen – ihrer ketzerischen Verbindung entsprechend – aussteigerhaft: Otello brustfrei im wallenden Gewande, Desdemona im üppig wippenden Federkleid – als gerupftes Huhn oder liebestoller Schwan, beides passt. Nach dem Tod der beiden tritt die erschrocken ehrenwerte Gesellschaft im gegenwärtigen Prada-Chic zum Abgesang auf und dann ab. Na und? Und sonst? – Kehlkopfakrobatik! Das Publikum feierte die Weltstars des Belcanto (höchstens noch die Met bringt solche zusammen in eine Reihe: Olga Peretyatko, Gregory Kunde, Juan Diego Flórez, Edgardo Rocha), es beschimpfte den chinesischen Dirigenten Muhai Tang, der Rossini allzu lau anging, und wuchtete dem Regieteam das volle Buh entgegen, weshalb es sich flink hinter den Solisten versteckte. Kein Mumm, das gellende Missfallen direkt entgegen zu nehmen. Klaro, dass Berlins Lokal-TV, extra angereist zur Premiere, Flimms Flop umsichtig verschwieg.

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Bevor es in Salzburg und Bayreuth gehörig zur Sache geht, startete im burgenländischen Mörbisch, eine knappe Autostunde vor Wien, in der gut 6.000 Besucher fassenden Arena am Ufer des Neusiedler Sees das alljährliche Operettenspektakel mit abschließendem Brillantfeuerwerk. Es ist sozusagen das Pendant zum gleichfalls ziemlich gigantischen Bregenzer Opernfest am Bodensee am entgegengesetzten östlichen Ende von Österreich.
Mörbischs werbeträchtiger Superlativ: Die 60 Meter breite Portalbühne mit neuer Drehplattform. Sie gilt als größte Operettenbühne der Welt. Dort walzerte heuer der Johann-Strauß-Klassiker „Eine Nacht in Venedig“. Im Gegensatz zu Rossinis „Mohren“-Tragödie ein albern-barockes Geschichtchen ums Haschen nach Sex und Geld, getragen von süßester Melodienseligkeit. Doch die allein macht nicht das hier geforderte Massenspektakel; da braucht’s eine kräftig zupackende Regie – und Karl Absenger kann das wie kaum ein anderer in der Branche. Klugerweise hat er sich zuerst mit der österreichischen Kabarettisten-Legende Joesi Prokopetz zusammen getan und ein frisches, gegenwartaffines, witzig kalauerndes Script verfasst. Schon mal ein Trumpf; bestens tauglich zum Nachspiel im regulären Stadt- und Staatstheaterbetrieb. Was dieser nicht haben kann, ist – Trumpf Nr. 2! – der staunenswerte Einfall des Bühnenbildners Walter Vogelweider: Nämlich ein monumental-modernes Kreuzfahrtschiff, das sich hinter romantischer Venedig-Kulisse zur Überraschung des perplexen Publikums (auf besagter Drehscheibe) hervorschiebt. Zwei tolle Spielfelder, auf denen die Regie mit meisterlichem Geschick die Heerscharen von Ballett, Statisterie, Chor und Solisten sortiert. Perfekte Massenregie im Wechsel mit kabarettistisch-komödiantischem Kammerspiel. Dazu Wasserspiele, Pyrotechnik, zauberische Karnevals-Einlagen, fantastische Kostümierungen und ohrwürmige Extras mit geschickt einmontierten Hits aus anderen Strauß-Werken. Also ein Großaufgebot an Einfallsreichtum, Raffinesse, Material, Technik und Personal für die opulente Strauß-Show, das so monumentale wie witzige Operetten-Entertainment. Dann kurz vor Mitternacht: Krachende Raketen im Sommernachtshimmel und ebensolcher Jubel.

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Auch in Berlin toben allerorten Sommerspektakel. Darunter in der vergleichsweise intimen Arena des Monbijou-(Off-)Theaters im gleichnamigen Park vis à vis der Museumsinsel eine besondere Delikatesse: „Hamlet“. Dauert in voller Länge gut vier Stunden; hier verkürzt auf 90 Minuten; dabei die wahrlich komisch-grotesken Seiten der Tragödie heraus kitzelnd und dennoch den ganzen Shakespeare nicht vernachlässigend. Mit nur drei Akteuren in wechselnden Rollen und rasenden Verkleidungen – ein ziemliches Kunststück von Regie (Gabriele Blum, Peter Kaempfe) und Dramaturgie (Kaempfe) sowie spielerischer Virtuosität (Lina Wendel, Michael Schwager, Benjamin Biber). Das haut so manchen kostspielig subventionierten und opulent inszenierten (Berliner) Staatstheaterbetrieb in die Pfanne. Fantasie und Können machen allemal (wie tröstlich!) großes Theater selbst im kleinen Format und mit kleinem Geld. Selten erlebte ich in Deutschlands Theaterhauptstadt ein derart beglücktes Publikum.
Im Kontrast dazu zeigt das Monbijou Molières „Tartüff“ (so die Berlinische Schreibweise). Auch kompakt in 90 Minuten, drall und deftig und unverschämt frech-plebejisch komödiantisch. Volkstheater als das reine Vergnügen jenseits von Volkstümelei. Ist nicht oft zu finden.