von Sven Hansen
Am 22. Juni haben Japan und Südkorea den 50. Jahrestag der Unterzeichnung ihres Grundlagenvertrags gefeiert. Dabei haben sie einmal mehr ihr derzeit frostiges Verhältnis und vor allem das ihrer Regierungen demonstriert. Denn erst am Vortag hatten sich die beiden Außenminister bei ihrem ersten Treffen seit vier Jahren überhaupt darauf einigen können, dass Japans Ministerpräsident Shinzo Abe zum Jubiläum an einer Feier der südkoreanischen Botschaft in Tokio teilnimmt. Umgekehrt besuchte dann Südkoreas Präsidentin Park Geun-hye eine entsprechende japanische Botschaftsfeier in Seoul.
Ein längst überfälliges allererstes bilaterales Treffen der seit mehr als zwei Jahren amtierenden Regierungschefs stand nicht an. Die Außenminister vereinbarten zwar eine solche Zusammenkunft zu „gegebener Zeit“, ließen aber Datum und Inhalt offen. In diesem Jahr rechnet denn auch niemand mehr damit.
Auf den ersten Blick erscheinen die großen Spannungen zwischen Japan und Südkorea völlig unverständlich. Schließlich sind die beiden Nachbarstaaten kulturell eng miteinander verwoben, haben als eine der wenigen Staaten Ostasiens demokratische Systeme mit aktiven Zivilgesellschaften und dazu hoch entwickelte Industrien mit starken Technologie- und Exportsektoren. Beide Staaten werden von ähnlich konservativen Parteien dominiert und sind militärisch eng mit den USA verbündet. Doch zwischen den beiden Nachbarn stehen nach wie vor die nicht aufgearbeitete Kolonial- und Kriegsgeschichte, ein daraus resultierender Territorialkonflikt um einen Archipel namens Dokdo/Takeshima sowie kulturelle Ressentiments.
Laut einer Umfrage in beiden Staaten, die von der japanischen Organisation Genron NPO unmittelbar vor dem 50. Jahrestag des Grundlagenvertrags veröffentlicht wurde, haben 52,4 Prozent der befragten Japaner negative Gefühle gegenüber Südkorea. Umgekehrt haben sogar 72,5 Prozent der Koreaner ein schlechtes Bild von Japan. Laut dieser Umfrage sehen 56 Prozent der Japaner die Südkoreaner als nationalistisch an, 57 Prozent der Koreaner halten die Japaner für militaristisch. In einer anderen Umfrage von Ende 2014 war Japans Premier Abe in Südkorea sogar noch unbeliebter als Nordkoreas Diktator Kim Jong-un.
Im Gegensatz dazu ist Südkoreas Verhältnis zu China besser denn je. Die beiden Länder, die 1992 überhaupt erst volle diplomatische Beziehungen miteinander aufnahmen, verbindet seit 2014 sogar ein Freihandelsabkommen. China ist inzwischen Südkoreas wichtigster Handelspartner; Südkorea Gründungsmitglied der neuen, von China initiierten Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Dabei ist die Regierung in Peking immer noch die wichtigste Stütze des nordkoreanischen Regimes, das China mit seinem Eingreifen im Koreakrieg (1950–53) vor einer Niederlage bewahrt hatte. Zwar hat Peking kein Interesse an einer koreanischen Widervereinigung, es spielt im Korea-Konflikt heute dennoch eine konstruktive Rolle.
Japans Beziehungen zu China sind dagegen ähnlich schlecht wie zu Südkorea. Auch einen Dreiergipfel gab es bereits seit 2012 nicht mehr. Peking und Seoul verbindet vielmehr die Ablehnung von Tokios Umgang mit seiner Kriegsgeschichte, in der China und Korea Opfer waren. Als Kolonialmacht von 1910 bis 1945 versuchte Japan, mit einem per Todesstrafe durchgesetzten Verbot der koreanischen Sprache und von koreanischen Namen die Kultur Koreas auszulöschen. Aus China hatte Japan 1932 den ihm hörigen Marionetten-Staat Mandschukuo herausgelöst und von 1937 bis 1945 offen einen aggressiven Krieg geführt, dessen Brutalität u. a. im sogenannten Nanking-Massaker vom Dezember 1937 gipfelte. Japans Rechte negieren die damaligen Verbrechen oder versuchen sie zu relativieren, umgekehrt nutzt China sie propagandistisch für seinen Nationalismus. Japan wollte sich als eines der wenigen asiatischen Länder nicht an der neuen, von China dominierten Entwicklungsbank AIIB beteiligen. Sie konkurriert mit der von Tokio dominierten Asian Development Bank.
Der japanisch-koreanische Grundlagenvertrag vor fünfzig Jahren hat eigentlich das bilaterale Verhältnis zwei Jahrzehnte nach Ende des Pazifikkrieges und der Kolonialisierung Koreas normalisieren sollen. Doch schon 1965 war das Abkommen in Südkorea so umstritten, dass der damalige Militärdiktator Park Chung-hee es nur mit Hilfe des Kriegsrechts durchsetzen konnte. Der einst von Japanern ausgebildete Park brauchte für seinen autoritären Modernisierungskurs japanische Finanzhilfen. Für Tokio lohnten sich die Kredite und Schenkungen von umgerechnet 800 Millionen Dollar an Südkorea, weil sie die Märkte des Nachbarlandes für Nippons wiedererstarkte Wirtschaft öffneten. Zugleich wurden mit dem Vertrag alle Entschädigungsforderungen Südkoreas aus der japanischen Kolonial- und Kriegszeit für erfüllt erklärt. Der Territorialkonflikt um den umstrittenen Archipel war eigens ausgeklammert worden.
Das Schlussstrich-Argument führt Tokio bis heute an. Dabei war 1965 zum Beispiel die sexuelle Versklavung koreanischer Frauen in japanischen Militärbordellen des Zweiten Weltkriegs so gut wie unbekannt – und deshalb wohl auch nicht Teil der damaligen Verhandlungen. Die Opfer hatten aus Scham jahrzehntelang geschwiegen und thematisierten die ihnen zugefügte Gewalt erst in den 1990er Jahren. Vom japanischen Staat wurden sie bis heute nicht entschädigt. Zur Begründung verweist die Regierung in Tokio stets auf das Abkommen von 1965, verweigert aber die Veröffentlichung damaliger Verhandlungsnotizen. Diese dürften zeigen, dass die Zwangsprostitution der Kriegszeit gar nicht verhandelt wurde, weshalb spätere Forderungen auch nicht als bereits abgegolten erklärt werden können.
Mit seinem Beharren auf einer formal-juristischen Position mach sich Japan moralisch angreifbar. Es dominiert der Eindruck, Tokio sei nach inzwischen sieben Jahrzehnten noch immer nicht an wirklicher Versöhnung interessiert. Angesichts der inzwischen nur noch sehr geringen Zahl überlebender Opfer von damals (in Korea ist von 50 Personen von einst bis zu 200.000 die Rede) dürften finanzielle Gründe keine Rolle bei Japans Verhalten mehr spielen, eine geschichtsrevisionistische Negation damaliger Verbrechen dafür umso mehr.
Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass zahlreiche Politiker der in Tokio regierenden Liberaldemokraten weiter die Verantwortung des Kaiserreichs für die damaligen Militärbordelle anzweifeln und die versklavten Frauen, die mehrheitlich aus Korea stammten, für ihr Schicksal selbst verantwortlich machen.
Aus koreanischer Sicht wirken Japans Entschuldigungen für seine Kriegs- und Kolonialverbrechen halbherzig und unaufrichtig. Dafür sorgen auch die regelmäßigen Besuche japanischer Politiker einschließlich von Ministern und gelegentlichen Ministerpräsidenten am umstrittenen Yasukuni-Schrein. Dort wird nicht nur den japanischen Toten von Nippons imperialistischen Kriegen gedacht, sondern auch verurteilten Kriegsverbrechern. Das zum Schrein gehörende Museum spricht Japan von jeder Kriegsschuld frei. Umgekehrt nervt die Japaner an den Koreanern deren Bestehen auf einer ehrlichen Entschuldigung für die Vergangenheit, denn diese ist aus japanischer Sicht längst erfolgt.
Seit dem Frühjahr 2013 führt Park Geun-hye Südkoreas konservative Regierung. Sie ist die Tochter des einstigen Militärdiktators Park Chung-hee, der 1965 den Grundlagenvertrag mit Japan schloss. Doch die heutige Präsidentin ist sichtlich bemüht, nicht als japanfreundlich zu erscheinen. Abes geschichtsrevisionistischer Kurs macht Zugeständnisse ohnehin fast unmöglich. Beide Politiker drückten bei ihren Auftritten vor den Botschaften des jeweils anderen Landes zwar den Wunsch nach besseren Beziehungen aus. Doch während Park dabei den richtigen Umgang mit der Geschichte betonte und die Lösung historischer Konflikte einforderte, war dies für Abe überhaupt kein Thema.
Im Umgang mit China ist das sogar ein Stück nachvollziehbar. Wer wollte sich schon ausgerechnet von Peking im korrekten Umgang mit der Geschichte belehren lassen? Denn wer das eigene Tiananmen-Massaker autoritär aus der eigenen Geschichte tilgt, ist nicht glaubwürdig bei der Forderung nach dem ehrlichen Umgang mit dem Nanking-Massaker, auch wenn die Fakten zu den Ereignissen von 1937 viel stärker die chinesische Position stützen als die japanischer Revisionisten. Zudem geht es beim Streit zwischen Japan und China immer auch um die Vorherrschaft in Ostasien, was auch der Konflikt um die Inselgruppe Diaoyu/Senkaku zeigt.
Doch anders als bei China kann sich Japan im Konflikt mit Südkorea nicht so einfach mit dortigen Geschichtsmanipulationen herausreden. In Südkorea gibt es eine breite öffentliche Debatte. Die Position und das Handeln der Regierung in Seoul werden stark von Initiativen aus der Zivilgesellschaft beeinflusst. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Schicksal der Zwangsprostituierten heute auch ein Thema der Regierung ist. Auch stehen sich im japanisch-südkoreanischen Konflikt zwei Demokratien gegenüber. Von denen sollte erwartet werden, dass sie aufgeklärt, zivilisiert und klug handeln – und zu sinnvollen Kompromissen fähig sind.
Doch Japan versagt nicht nur im Umgang mit dem mächtigeren China, sondern auch gegenüber Südkorea. Dabei gibt es in den jeweiligen Zivilgesellschaften auch ermutigende Beispiele. Hoffnungen hegten auch schon die Bosse des Weltfußballverbandes Fifa, als sie die Fußball-WM für das Jahr 2002 an Korea und Japan erstmals gleichzeitig vergaben. Doch Seoul und Tokio ließen diese Chance weitgehend ungenutzt. Eine Zusammenarbeit gab es nur dort, wo sie sich partout nicht vermeiden ließ.
Der Streit zwischen Japan und Korea ist vor allem für Japan peinlich, auch wenn rechte Politiker das in Tokio nicht wahrhaben wollen. Für Südkorea ist das frostige Verhältnis zu Japan auch kein Ruhmesblatt, denn es entspricht im Zeitalter der Globalisierung nicht den heutigen Notwendigkeiten beider Staaten. Der Konflikt erinnert vielmehr an Rechthaberei beleidigter Kinder. Chinas Präsident Xi Jinping, der Japans Abe bereits getroffen hat, scheint da sogar gegenüber Tokio flexibler zu sein als Südkoreas Präsidentin Park.
Dabei würde es Abe vielleicht inzwischen gar nicht mehr abgenommen werden, wenn er sich für Japans Kriegs- und Kolonialvergangenheit ernsthaft entschuldigen würde. Abe gilt als unverbesserlicher Revisionist, dem zwar taktische Manöver zugetraut werden, aber kein wirklicher Sinneswandel in historischen Fragen. Dabei wird Japans Glaubwürdigkeit ohnehin nicht allein am Verhalten des Ministerpräsidenten festgemacht als vielmehr am Verhalten der gesamten Elite. Der Konflikt wird sich wahrscheinlich noch länger hinziehen und das frostige Verhältnis bestenfalls oberflächlich auftauen.
Südkorea braucht deshalb eine neue Japan-Politik, die ähnlich mutig ist wie es einst die Sonnenscheinpolitik des Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-jung gegenüber Nordkorea war. Präsident Kim hatte mit seiner Entspannungspolitik einen Brückenbau versucht, der auf der Einsicht basierte, dass die jahrzehntelange Verteufelung Nordkoreas keinerlei Verbesserungen gebracht hat. Eine solche Politik wird nicht zwangsläufig honoriert– im Falle Nordkoreas war es letztlich nicht der Fall, wobei auch die Politik danach die Situation keineswegs verbessert. Aber eine Entspannungspolitik ist einen Versuch wert. Die Beziehungen zwischen Südkorea und Japan sind viel zu wichtig, um eine Geisel der Geschichte zu sein.
Bei dem Treffen der beiden Außenminister zum 50. Jahrestag des Grundlagenvertrags gab es jetzt sogar eine erstaunliche Einigung, die aufhorchen ließ: Nachdem Seoul in den letzten Monaten regelrecht Sturm gelaufen war gegen Japans Antrag bei der Unesco, 23 historische Industriestätten der Meiji-Zeit zum Weltkulturerbe zu erklären, einigten sich beide Seiten überraschend, die jeweiligen Anträge des anderen Landes zu unterstützen.
Bis dahin hatte Südkorea den Japanern stets vorgeworfen, die Zwangsarbeit von Koreanern, die an einigen dieser Industriestätten tausendfach stattgefunden hatte, bei der Glorifizierung der Industriedenkmäler ignorieren zu wollen. Seoul zeigte tiefes Misstrauen gegenüber Japan, das nach den bisherigen Erfahrungen berechtigt scheint. Noch ist unklar, ob die Regierung in Seoul ihre Meinung änderte, weil es ohnehin sehr schwer gewesen wäre, ein Veto gegen Japans Antrag durchzusetzen – oder ob es jetzt ein wirklich ernstgemeinter Versuch Seouls ist, die Beziehungen zu Tokio auf eine neue Grundlage zu stellen.
Zu hoffen ist, dass Japan die ausgestreckte Hand Südkoreas wirklich annimmt und seinerseits entsprechend innovativ reagiert. Allerdings ist das ausgerechnet dem Rechtsnationalisten Abe am wenigsten zuzutrauen.
Aus:IPG. Internationale Politik und Gesellschaft, 06.07.2015. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
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