18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Nur Beruhigungspillen?

von Heerke Hummel

Es heißt, Europa erlebe derzeit einen Flüchtlingsstrom wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Krieg und Verfolgung treiben ihn an, und viele wollen unerträglicher Armut entfliehen. Da mag am Horizont ein Fünkchen Hoffnung auf eine Lösung des Problems aufleuchten. Leon Schreiber hat es mit einem Essay gesendet, der ihm bei einem Wettbewerb des St. Gallen Symposiums den 2. Platz sicherte und im Londoner „Guardian“ veröffentlicht wurde. Darin wird aus verschiedenen Entwicklungs- und Schwellenländern in aller Welt über Initiativen und Pilotprojekte berichtet, bei denen es um die Zahlung eines Grundeinkommens für die Ärmsten der Armen geht. Von zehn US-Dollar pro Monat und Familienmitglied ist da die Rede, mit denen es etlichen Empfängern gelungen sein soll, dank solcher Absicherung mit Kleinst-„Investitionen“ unternehmerisch aktiv zu werden. Eine alleinstehende namibische Mutter mehrerer Kinder beispielsweise kaufte mit dem allerersten 80 Dollar-Monatsgrundeinkommen der Familie unter anderem zwei Hühner, aus deren Eiern sie im Verlaufe eines Jahres 40 Hühnchen zog, die für insgesamt 1200 Dollar verkauft werden konnten und einen Nettogewinn von 1000 Dollar einbrachten.
In solchen Projekten sieht der Politikwissenschaftler „im Gegensatz zu den komplizierten Theorien über strukturelle Anpassung, wirtschaftliche Konvergenz und Trickle-Down, die letzten Endes allesamt gewährleisten sollen, dass alle Menschen genug Geld haben“, eine „praktische Maßnahme, um die Armut von Millionen von Menschen zu bekämpfen“. Weit davon entfernt, den Menschen die Motivation zu arbeiten zu nehmen, habe die Einführung eines monatlichen Einkommens von zehn Dollar die Empfänger mit der erforderlichen sozialen Grundsicherung sowie den Marktanreizen ausgestattet, die nötig sind, um sich am lokalen Wirtschaftsgeschehen beteiligen zu können. Indem es als Investition sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite wirkte, habe das bedingungslose Grundeinkommen als Anschubfinanzierung für angehende Unternehmerinnen und Unternehmer gedient, schreibt L. Sch.
Natürlich könnten zusätzliche zehn Dollar pro Kopf und Monat in den hier besprochenen Regionen der Welt eine immense Einkommensverbesserung für vielleicht Milliarden Menschen bedeuten. Aber wäre es ein Modell und ein Weg zur Lösung des Weltarmutsproblems? Im Freitag, wo Schreibers Artikel nachgedruckt wurde, entspann sich dazu ein scharfer Meinungsstreit. Dominierend sind dabei die Kritiker mit Vorwürfen bis zu solchen wie: Schreiber verbreite Illusionen im Interesse des Kapitals.
In der Tat, angesichts der dramatischen Situation, in der sich die Welt befindet, mag der Beitrag Leon Schreibers wie eine Verabreichung von Beruhigungspillen anmuten. Aber man kann ja auch weiter nachdenken über tatsächlich weltverändernde Programme großen Stils zur Armutsbekämpfung. Die Flüchtlingsströme sind Alarmzeichen genug. Werden gerade sie uns Europäer nicht schon in allernächster Zeit zu einem gewaltigen ökonomischen Umdenken zwingen, bei dem es nicht mehr um zehn, sondern um vielleicht 1000 Euro pro Monat geht? Um eine neue Weltwirtschafts-, Welthandels- und Weltfinanzpolitik? Um ein neues Gefühl für unseren sehr klein gewordenen Erdball und um ein entsprechendes Verständnis von seiner Bewirtschaftung? Um ein Zusammenrücken aller Menschen? Um eine gemeinsame, solidarische Aneignung unseres Planeten, seiner Reichtümer an natürlichen Ressourcen, seiner ökonomischen Potenzen und kulturellen Werte? Um ein neues Bewusstsein von unserem gesellschaftlichen Sein?
Die europäische Politik (und natürlich nicht nur diese) ist gefordert, ihrer internationalen Pflicht zur Armutsbekämpfung zu genügen. Etwa dadurch, dass über die Europäische Zentralbank Geld zur Verfügung gestellt wird; nicht, um dieses Geld durch Zinseinnahmen zu vermehren, sondern um mit zweckgebundenen, langfristigen und zinslosen Krediten regionale Wirtschaftskreisläufe in den Armutsregionen zu initiieren und Bildungsprogramme zu finanzieren. Dabei könnte durchaus auch an solche Projekte und Initiativen, wie sie Leon Schreiber beschrieben hat, angeknüpft werden.
In der Debatte über besagten Artikel ging es auch um die Finanzierbarkeit. Diesbezügliche Zweifler scheinen das Wesen und die Rolle des Geldes in der Wirtschaft nicht zu durchschauen. In seiner heutigen Konstitution als Information über verausgabte gesellschaftliche Arbeit bei der Erzeugung von Produkten und Leistungen beziehungsweise über eine Berechtigung zu deren Verbrauch vermittelt das Geld den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess in seiner Einheit von Produktion und Konsumtion. Aber dazu bedarf es heute mehr denn je einer entsprechenden gesellschaftlichen Steuerung. Und diese leidet – vielleicht wegen eines eingeengten Verständnisses vom Geld als einer eigenständigen Sache – unter der weitgehenden ministeriellen Trennung von Wirtschaftspolitik einerseits sowie Finanzpolitik und speziell Geldpolitik andererseits. Die Notenbank hingegen soll als unabhängige Institution ausschließlich Geldpolitik betreiben, um die Geldstabilität (in Grenzen) zu gewährleisten.
Die Folgen solch engstirnigen Denkens haben uns die letzten großen Krisen vor Augen geführt. Die Finanzkrise konnte ausbrechen, weil die Finanzminister glaubten, alles sei in Ordnung, wenn das Geld üppig in die Staatskassen fließt – ohne sich zu fragen, woher es kommt, und ohne zu verstehen, was da auf den Finanzmärkten eigentlich vor sich ging (Wolfgang Schäubles persönliches Eingeständnis!). Die Wirtschaftsminister waren zufrieden, wenn die Auftragsbücher der Unternehmen voll waren und die Exporte rollten. Und der EZB als Notenbank genügte es, wenn die Inflationsrate bei zwei Prozent lag – ohne darüber nachzudenken, was die Privatbanken mit dem zur Verfügung gestellten Geld machten ; wenn nur alles im Fluss war.
Und auch im Fall der griechischen Haushaltskrise war beziehungsweise ist es nicht anders. Ausgegeben kann nur werden, was eingenommen wurde, lautet die Devise – mit der erpresserischen Forderung, zu sparen und nochmals zu sparen, ohne Rücksicht auf Verluste, die der griechischen Volkswirtschaft, dem Gesundheitswesen und so weiter zugefügt wurden. Von der Verelendung großer Teile des Volkes ganz zu schweigen!
Erst unter dem allergrößten Druck der Staatsschuldenkrise sah sich EZB-Präsident Mario Draghi zu der Erklärung gezwungen, die Notenbank werde – entgegen ihrem Statut – wenn nötig Staatsanleihen in beliebiger Höhe aufkaufen, um den Euro zu retten. Doch könnte sie bei entsprechender Änderung ihres Statuts und ihres Selbstverständnisses als europäische Wirtschaftslenkerin – unter Berücksichtigung des realen Wirtschaftspotenzials – auch Geld zielgerichtet und zweckgebunden für bestimmte Projekte zur Verfügung stellen, zum Beispiel für bedeutende strukturelle Anpassungen, etwa im Energiesektor, für die Sanierung von Volkswirtschaften, aber eben auch zur Armutsbekämpfung. Das würde zwar ein radikales Umdenken und Reformieren erfordern und klingt wie Zukunftsmusik. Doch das Fünkchen Hoffnung mag weiter glimmen. Denn der Druck der ökonomischen und politischen Notwendigkeit wird diesen Wandel eher früher als später erzwingen; zumal er Europas Wirtschaft enorm stimulieren und Vollbeschäftigung sichern könnte.