von Peter Petras
Präsident Erdogan lässt kurdische Gebiete bombardieren. Angeblich sollte es gegen den „Islamischen Staat“ gehen. Jedenfalls war das zunächst verkündet worden. Im Kern wird jedoch Krieg gegen die Kurden geführt, präventiv gegen jegliche Idee einer kurdischen Staatlichkeit.
Das hat seine lange Vorgeschichte. Das Osmanische Reich befand sich seit Ende des 17. Jahrhunderts historisch auf dem Rückzug, verlor die Kriege zunächst gegen Österreich, dann gegen Russland und galt im 19. Jahrhundert als „der kranke Mann am Bosporus“. Griechenland, Serbien, Rumänien und Bulgarien entstanden als selbständige Staaten. Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen die Spannungen auf dem Balkan wieder zu. Junge türkische Offiziere und Intellektuelle wollten diesen Prozess aufhalten und eine Modernisierung des Landes erzwingen. Dazu gehörte auch die Vorstellung, einen türkischen Nationalstaat zu schaffen.
Das Osmanische Reich hatte, wie jedes Imperium, zwar eine herrschende Schicht und Bürokratie, die überwiegend einer ethnisch-kulturellen Gruppe angehörte – hier war sie türkisch, aber der Staat war grundsätzlich nicht-ethnisch beziehungsweise national organisiert. So war es einerseits die Absicht der „jungtürkischen“ Revolutionäre, eine türkische Nation zu schaffen, andererseits jedoch, den Gesamtstaat auf neue Weise zu regieren und zu verwalten.
Der Aufstand begann im Juli 1908 in Saloniki, das bald zu Griechenland gehören sollte, und führte zur Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1876, zur Einsetzung eines Parlaments und zur Abdankung des zuvor absolutistisch regierenden Sultans Abdülhamid, an dessen Stelle sein Bruder Mehmed V. trat. Ziel der Jungtürken 1908/09 war die Einrichtung einer verfassungsmäßigen parlamentarischen Regierung unter Einbeziehung von Vertretern der christlichen und nichttürkischen islamischen Minderheiten im Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches.
Der Imperialismus der europäischen Mächte, auch der kleinen neuen auf dem Balkan, machte dem einen Strich durch die Rechnung. 1908 proklamierte Österreich-Ungarn die Annexion Bosnien-Herzegowinas, das es zwar seit 1878 verwaltet hatte, das aber offiziell noch dem Sultan unterstand. Bulgarien, das formell ebenfalls noch dem Sultan untertan war, erklärte seine Unabhängigkeit, Kreta, seit 1898 faktisch selbständig unter nomineller Oberhoheit des Sultans, proklamierte seine Vereinigung mit Griechenland. Italien besetzte 1911 Tripolis, das heutige Libyen, die letzte nordafrikanische Provinz des Osmanischen Reiches.
Im Oktober 1912 begann der verlustreiche erste Balkankrieg. Die Truppen des Balkanbundes – Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland – eroberten fast alle Gebiete, die dem Osmanischen Reich in Europa noch verblieben waren, und standen kurz vor Istanbul. Schließlich verkündete auch Albanien seine Unabhängigkeit. Da die Balkanstaaten sich über die Verteilung der Beute nicht einigen konnten, kam es 1913 zu einem zweiten Balkankrieg, in den auch Rumänien eingriff, und das Osmanische Reich erhielt Ostthrakien mit der Stadt Edirne zurück. Es hatte jedoch zahlreiche Massaker der „christlichen“ Balkanstaaten an der türkischen und muslimischen Bevölkerung gegeben, die aus den eroberten Gebieten vertrieben wurde und in Anatolien untergebracht werden musste. Unter den Jungtürken wuchs das Misstrauen gegenüber den christlichen Bevölkerungsteilen im verbliebenen Reich, nationalistische, ja quasi-rassistische Positionen griffen Platz.
Die „orientalische Frage“ war in der politischen, Militär- und Diplomatie-Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht nur mit den Rivalitäten zwischen Großbritannien und Russland um Zentralasien verbunden, sondern auch mit den Machtfragen auf dem Balkan, im Mittelmeerraum und der Frage nach den Meerengen am Bosporus und den Dardanellen, dem Zugang zum Schwarzen Meer. Russland hatte seit dem 19. Jahrhundert trotz der Niederlage im Krimkrieg (1853-56) – als Großbritannien, Frankreich und Sardinien das Osmanische Reich unterstützten, um zu verhindern, dass Russland Istanbul (Konstantinopel) eroberte und die Meerengen beherrschte – dieses Ziel nie aufgegeben. Unter der Perspektive des Krimkrieges war aus osmanischer Sicht daher das Treffen zwischen dem britischen König Edward VII. und dem russischen Zaren Nikolaus II. im Juni 1908 in Reval (Tallinn) Beleg dafür, dass sich die beiden Großmächte nun auf Kosten des Osmanischen Reiches verständigt hatten. Zuweilen wird betont, dass diese Wahrnehmung Auslöser für den jungtürkischen Aufstand im Juli 1908 war. Auf jeden Fall führte sie das Osmanische Reich im ersten Weltkrieg an die Seite Deutschlands.
Für Russland war in der Tat die Eroberung der Meerengen und die endgültige Zerschlagung des Osmanischen Reiches das wichtigste Kriegsziel, wie der Historiker Sean McMeekin faktenreich und dokumentengestützt nachweist, nicht der europäische Krieg, von Russland aus betrachtet im Westen. Großbritannien und Frankreich versuchten ganz in diesem Sinne 1915, die Dardanellen, zunächst die Halbinsel Gallipolli zu erobern, mussten aber eine herbe Niederlage gegen die von Mustafa Kemal, später bekannt als Atatürk, geführten türkischen Truppen hinnehmen. Winston Churchill, der die Hauptverantwortung auf britischer Seite trug, musste als Marineminister zurücktreten.
Insgesamt wurde die militärische Position der osmanischen Seite in der Kaukasus-Region und in den arabischen Gebieten jedoch zunehmend schwierig. Auch deshalb wurde im Osmanischen Reich die Verfolgung christlicher Bevölkerungen immer stärker veranlasst. Am bekanntesten wurde die Vertreibung der Armenier, die von der Regierung offiziell als Deportation deklariert wurde, faktisch jedoch durch mordlüsterne Milizen und entsprechend eingestimmte örtliche Beamte zum Völkermord gemacht wurde. Ihm fielen Hunderttausende, wohl über eine Million Menschen zum Opfer.
Umgekehrt hatte der russische Geheimdienst 1915 und 1916 tatsächlich in der Kaukasusregion Aufstände von armenischen und kurdischen Milizen gegen die Osmanen ermuntert und logistisch geführt, wie zuvor schon seit Jahrzehnten auf dem Balkan eine Geheimorganisation der dortigen christlichen Bevölkerungen. Immer unter dem Motto, dass Russland Schutzmacht aller Christen im Osmanischen Reich sei. In diesem Sinne war der türkische Nationalismus in all seiner mörderischen Ausprägung auch eine Abwehrreaktion auf die Angriffe der anderen Nationalismen. 1916/17 marschierten mit den vorrückenden russischen Truppen auch armenische Freischärler nach Westen und verübten Massaker an muslimischen Bevölkerungen; nach den russischen Revolutionen 1917 und dem Zusammenbruch der russischen Front marschierten dann osmanische Truppen wieder nach Osten, und massakrierten „Christen“.
Der die Türkei betreffende Vertrag im Versailler System war der von Sèvres vom 10. August 1920. Danach sollte ein großer Teil des östlichen Anatoliens zu einem armenischen Staat gehören, ein anderer Teil zu einer kurdischen Autonomie, Ostthrakien und Smyrna sollten griechisch werden, Istanbul und das Gebiet der Meerengen sollten eine „Internationale Zone“ werden. Die arabischen Gebiete waren ohnehin abgetrennt und fielen an Großbritannien und Frankreich als Kolonien beziehungsweise an Saudi-Arabien. Die türkischen Nationalisten, die sich unter Atatürk als Gegenregierung konstituiert hatten, lehnten den Vertrag, den die Regierung des Sultans unterschrieben hatte, ab und organisierten den Widerstand. Russland hatte mit der Revolution die Seiten gewechselt, Lenins Regierung unterstützte Atatürk auch mit Waffen und Ausrüstung. Die türkischen Truppen besiegten die griechische Armee.
Mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 wurden die Vertragsbedingungen neu festgelegt: die griechischen Gebietsgewinne wurden eliminiert, der armenische Staat auf früher osmanischem Gebiet verschwand, ebenso eine kurdische Autonomie, von einer internationalen Zone im Gebiet der Meerengen war keine Rede mehr. Zwischen Griechenland und der Türkei wurde ein „Bevölkerungsaustausch“ vereinbart: etwa 1,25 Millionen Menschen griechisch-orthodoxen Glaubens, die auf dem Gebiet der nunmehrigen Türkei lebten, wurden nach Griechenland ausgewiesen, eine halbe Million muslimische Menschen aus Griechenland wurde in die Türkei umgesiedelt. Seither galt „Bevölkerungsaustausch“ als humanitäre Variante der Lösung ethnischer Probleme.
Der von Atatürk geschaffene türkische Staat wurde nach dem Modell der französischen Republik geformt: es gibt nur den Staat und einander gleichberechtigte Staatsbürger, für die alle dasselbe Gesetz, dieselbe Sprache, dieselbe Schule und derselbe Armeedienst gelten. Kulturelle, sprachliche oder ethnische Minderheiten, etwa die Kurden, sind da nicht vorgesehen. Auch wenn Recep Erdogan und seine AKP ihre Machtpositionen zunächst gegen die kemalistischen Parteien und Kräfte aufgebaut haben, stehen sie doch in der nationalistischen Tradition der Türkei.
Nachdem in den USA und in Westeuropa darüber schwadroniert wurde, dass nach den Zusammenbrüchen in Irak und Syrien das Versailler System und seine Grenzen im Nahen Osten obsolet geworden seien und auch ein kurdischer Staat denkbar, ist die türkisch-nationalistische Paranoia von 1915 und 1920 wieder da: Das soll unbedingt verhindert werden. Um welchen Preis eines Krieges auch immer. In dem Krieg gegen die PKK und die kurdischen Autonomiegebiete in Irak und Syrien geht es nicht nur um Neuwahlen in der Türkei und Erdogans Wunsch, eine Verfassungsänderung zu erlangen, die ihn zum neuen Quasi-Sultan macht. Es geht um den Staat in seinen Grenzen von 1923. Und das „Sèvres-Syndrom“, die Vorstellung, dass die christlichen Großmächte das Osmanische Reich, die Türkei überhaupt zerstören wollten. Und sie nur wegen ihres militärischen Einsatzes noch existiert.
Schlagwörter: Armenien, Balkankriege, Kurden, Osmanisches Reich, Peter Petras, Türkei, Versailler System