18. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2015

Gibt es einen Putinismus?

von Mario Keßler

Walter Laqueurs jüngstes Buch ist keine Biographie Wladimir Putins, sondern, wie der Titel anzeigt, eines über den „Putinismus“. Doch gibt es diesen überhaupt? Laut Laqueur – ja, und er definiert Putinismus als„Staatskapitalismus mit liberaler Wirtschaftspolitik, mit erheblichen staatlichen Eingriffen, die bei wichtigen Dingen nahezu total sind. Es ist eine Autokratie, aber die ist in der russischen Geschichte nichts Neues, und sie wird durch Ineffizienz und Korruption nahezu ausgehebelt. Es gibt ein Parlament, aber die oppositionellen Parteien sind keine wirkliche Opposition. Es gibt eine freie Presse, aber die Freiheit ist auf kleine Zeitungen begrenzt, und die Kritik darf nicht zu weit gehen.“
Putinismus. Wohin treibt Russland?“ bietet ein durch historische Exkurse gestütztes Panorama der heutigen russischen Gesellschaft. Das Buch führt in Probleme der Wirtschaft, Demographie und Sozialstruktur ein, aber der Schwerpunkt liegt auf den ideologischen Grundlagen der Innen- und vor allem der Außenpolitik Putins. Dem Zusammenbruch des Sowjetmarxismus als ideologischer Leitidee und den ideologischen Wirrungen beim Übergang zum Manchester-Kapitalismus unter Jelzin sei der Aufstieg eines neuen Nationalismus gefolgt. Dieser integriere Elemente einer spezifischen russischen Reichsidee der ausgehenden Zarenzeit und ihrer „Verlängerung“ im antibolschewistischen Exil – Laqueur sieht hier Iwan Iljin (1883-1954) als Zentralfigur. Dies verbinde sich mit dem ideologischen Herrschaftsanspruch des orthodoxen Klerus, nehme aber auch Anleihen beim Stalinismus (ohne dessen pseudomarxistisches Vokabular) auf. Innerhalb Russland erhalte dieses Konstrukt eine breite Unterstützung, stoße jedoch in der zahlenmäßig wachsenden islamischen Bevölkerung und unter anderen Nichtrussen an Grenzen.
Die Stärken des Buches überraschen diejenigen nicht, die mit Laqueurs Analysemethoden und seinem Schreibstil vertraut sind, und die meisten Rezensenten würdigen mit Recht die Arbeitsleistung des 94-jährigen Autors. Wie in früheren Büchern über Russland und die Sowjetunion, aber auch beispielsweise über Israel oder zur deutschen Geschichte vermag Walter Laqueur Entwicklungstendenzen in Politik, Wirtschaft und Kultur zu einem sehr lesbaren, sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Ohne dass er dies übertreibt, schwingen oft und auch im neuen Buch Reminiszenzen an persönliche Erfahrungen aus einem sehr langen Leben als politischer Beobachter und Historiker mit. Die Ideologiekritik ist einmal mehr eine Stärke, wobei Laqueur mit Recht die KP Russlands nicht zur Linken rechnet.
Es ist kein Buch für den Spezialisten, sondern eher für an Russland Interessierte, die aber (wie der Rezensent) ihren Arbeitsschwerpunkt in anderen Feldern haben. Insofern geht die Kritik Jörg Baberowskis im Tagesspiegel vom 23. Juni 2015, der den dargebotenen Fakten den Neuheitswert absprechen will, an der Sache vorbei. Teilweise Recht haben er und andere Rezensenten jedoch, wenn sie vor der Überbetonung des Ideologischen als Grundlage für Putins politisches Handeln warnen. Die Ideen eines chiliastischen „Eurasianismus“ dürfte Putin tatsächlich weniger ernst nehmen, als Laqueur nahelegt. Er selbst beschreibt, wie schnell einer von dessen Exponenten, der Wirrkopf Alexander Dugin, ins Abseits gestellt wurde, als er Putin und den Seinen einfach lästig wurde. Überhaupt scheint Putin die in sich zerstrittene russische Rechte eher zu dulden als zu fördern. Im Zweifelsfalle stabilisiert ein durch steigende Erdöl- und Erdgaspreise gestützter Aufschwung der Wirtschaft die putinsche Ordnung alle Mal mehr als jede Ideologie
Fragwürdig ist deshalb, ob es so etwas wie einen „Putinismus“ tatsächlich gibt, versteht man darunter mehr als nur ein spezifisches System der Machtkontrolle. Die russischen Medien huldigen Putin als Patriarchen, aber das ist nicht mit dem Personenkult um Stalin (und nicht einmal um Breshnew) vergleichbar.
Spannend lesen sich auch die Passagen, in denen Laqueur die Einkreisung Russlands durch den Westen als Legitimationsideologie russischen Großmachtstrebens ausmacht. So plausibel vieles daran ist, hätte sich der Leser doch eine stärkere Berücksichtigung tatsächlicher antagonistischer Machtinteressen gewünscht: Russland und die USA sind heute kapitalistische Konkurrenten auf dem Weltmarkt, ein Teil des amerikanischen Kapitals und der ihm verbundenen Politiker setzen auf nichtmilitärische Konfrontation, ein anderer (in Europa größerer) Teil tut dies nicht oder nur zögernd. Doch jede russische Regierung muss die Nato-Osterweiterung und den Sturz pro-russischer Regime in Georgien und der Ukraine als akute Bedrohung eigener Interessen wahrnehmen; die antiwestliche Frontstellung Russlands hat hier eine reale Grundlage, die nicht als Verschwörungstheorie abzutun ist, wie das Buch manchmal nahelegt. Laqueur, dessen Publikation im englischen Original den Titel Putinism. Russia and its Future with the West trägt, sieht für die nähere Zukunft keine Chance einer Entwicklung Russlands in Richtung einer voll ausgebildeten Demokratie, sieht aber die fernere Zukunft als offen. Dabei scheint ein etablierter Staatskapitalismus als Wirtschaftsform effektiver zu sein als ein Privatkapitalismus, der in den 1990er Jahren Russland beinahe in den Ruin getrieben hat und von dem die Menschen kaum noch etwas wissen wollen. Noch ferner stehen sie in ihrer großen Mehrheit aber sozialistischen Ideen und insbesondere, was Laqueur bedauert, einem internationalistischen Denken. Die alte russisch-sowjetische Intelligenzija ist nach seiner Meinung beinahe verschwunden. Stattdessen erzeugt Putin ein gesellschaftliches Klima, das Laqueur zutreffend als rechtsautoritär beschreibt. So stößt auch die Annexion der Krim in Russland weitgehend auf Zustimmung.
Eine Reihe dieser Gedanken zu Russland findet sich auch in einer Aufsatzsammlung Walter Laqueurs mit dem Titel Harvest of a Decade. Disraelia and other Essays. Darin geht es jedoch um mehr, so um Fragen Europas und die Gegenwart des Terrorismus: „Disraelia“ beschreibt kontrafaktisch einen um 1848 entstandenen jüdischen Staat im Nahen Osten, der sich etablieren konnte, bevor der arabische Nationalismus überhaupt entstand. Ein solcher Staat dient als Motor, nicht als Verhinderer der arabischen Emanzipation. Durch mehrere Aufsätze, die dem Nahostkonflikt gewidmet sind, zieht sich die Enttäuschung über den Zionismus und darüber, was aus Israel geworden ist; einem Land, dem Laqueurs dauernde Zuneigung gilt.
Seine harte Kritik am Sowjetkommunismus hingegen betrachtet Laquer mit dessen Untergang als abgeschlossen, Nachtreten ist seine Sache nicht. Halb im Scherz sagte er zum Autor dieser Zeilen, er sei ein Menschewik im Sinne des Internationalisten Julius Martow. Ein Jahrhundert nach dem ersten imperialistischen Weltkrieg, gegen den Martow mutig opponierte, ein Dreivierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, den Walter Laqueur mit viel Glück überlebte, ist er noch immer unser aktiver, zum Nachdenken auffordernder Zeitgenosse, den zu lesen sich lohnt.

Walter Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Russland? Propyläen, Berlin 2015, 332 Seiten, 22,00 Euro.
Walter Laqueur: Harvest of a Decade. Disraelia and other Essays, Transcaction Publishers, New Brunswick (New Jersey) 2013, 255 Seiten, 42,95 US-Dollar.