von Ulrike Steglich
Stromausfall. Wir hätten nichts davon gemerkt, außer dass es ungewohnt und angenehm ruhig ist. Abgesehen davon, dass um uns herum alle Menschen aufgeregt vom Stromausfall reden. Und das schon seit einer Viertelstunde.
Wir sitzen in einem kleinen italienischen Café in einer stillen Seitenstraße in Berlin-Mitte – in jenem Viertel, in dem ich irgendwie übriggeblieben bin. Als einer der letzten Mohikaner (jetzt muss man wohl akademisch-gendergerecht schreiben: eine der letzten Mohikaner*innen).
Es ist ein schöner Sommerabend, warm, blauer Himmel. Wir sitzen da, ungegendert, und trinken in Ruhe und andächtigem Schweigen unser Bier. Das braucht keinen Strom, in der abendlichen Sommerwärme wird es sowieso langsam warm.
Seit ich in diesem Sommer in nordirischen Hostels weilte, wo nach und nach die Duschen, die Herde, die Spülmaschinen, die Klingel und dann auch noch die Steckdosen ihren Dienst verweigerten, bin ich wieder sehr gelassen. Ich wunderte mich ein Weilchen, warum die Hostelgäste immerfort auf den Treppen oder vor dem Empfangsbüro herumlungerten (feuchte Zimmer? Aber wie, ohne Dusche?), bis ich begriff, dass sie dort den einzigen Internet-Zugang fanden. Fieberhaft starrten sie auf ihre Displays, auf Smartphones und Notebooks und Tablets. Ich fand’s lustig, ich war ohne Display sehr glücklich. Es war der Grund, warum ich drei Wochen ausgebrochen war. Keine Mails. Kein Netz. Alles analog. Sehen, hören, sprechen, lesen, schreiben, schmecken, riechen. Von Telefonzellen (!) aus telefonieren. Mitten in Belfast.
Im nordirischen Derry wohnten wir in einem herrlich anarchischen Hostel, in dem vor allem Praktikanten zu leben schienen: junge Spanier, Italiener, Australier, Iren, die meisten auf der Suche nach Jobs. Immer, wenn wieder ein Haushaltsgerät ausfiel, pappten sie lustige Zettelchen an das jeweilige Gerät, auf denen Sätze standen wie: „Sorry, ich funktioniere gerade leider nicht! Deine Dusche.“ Darunter lächelten halb verlegen Smileys.
Wir frühstückten im kleinen Hof unter einer provisorischen Regenplane auf alten Sofas, die aussahen, als wären sie vorm Sperrmüll gerettet, neben Wandmalereien und einer knallbunten Rümpelwerkstatt. Wir radebrechten mit den Hostel-Praktikanten und fühlten uns trotz der abartigen Sommerkälte und -nässe pudelwohl. Selbst die ältesten Iren konnten sich nicht an so einen arschkalten und völlig verregneten Sommer erinnern. Aber der Hostel-Chef verriet uns, in welchem Pub in der Nähe es immer donnerstags grandiose irische Live-Musik gibt.
Im italienischen Berlin-Mitte-Café kommt nun der freundliche Wirt mit besorgtem Gesicht alle paar Minuten herausgeeilt und verkündet neuen Gästen: Stromausfall. Es gebe vorerst nur Kaltgetränke, Vorspeisenteller und Salate. Die Gäste, die neu ankommen, sind verstört. Stromausfall! Mitten in Berlin. In der Apotheke ist es dunkel, bei REWE um die Ecke fallen die Kassen aus. Ein Mann um die 40 hält einen Tisch besetzt für seine Familie und tippt auf seinem Smartphone herum, seine sehr schlanke Frau kommt auf ihrem sehr sportlichen Fahrrad angebraust, im Gepäck ein Kleinkind, die Frau ruft mit aufgerissenen Augen entsetzt: Wie, Stromausfall? Es klingt, als wäre der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Man entscheidet sich, in ein anderes stromversorgtes Viertel zum Essen umzuziehen. Das Töchterchen kräht: Stromausfall? – Ganz die Mama.
Ich musste daran denken, wie mir meine Freundin Jutta mal ein Erlebnis in unserer kleinen Straße schilderte: Sie hörte, wie eine Mutter zu ihrem kleinen Kind belehrend und fast erschüttert sagte: „Und weißt du, hier gibt es sogar noch Wohnungen, für die man Miete zahlen muss.“ Das bedarf natürlich einer Erklärung in einem einstigen Arbeiterviertel, in dem es inzwischen fast nur noch Eigentums- oder Ferienwohnungen gibt. Es klang, als würde man einem Kind geduldig erklären, dass es früher auch mal die Prügelstrafe gab.
In meiner alten Mietwohnung fühle ich mich inzwischen ein bisschen wie ein Dinosaurier. Die Lieblingspizzeria meiner Söhne um die Ecke hat mittlerweile auch auf Touristenpublikum umgestellt, sich neu aufgebrezelt und die Preise verdoppelt. Jutta und ich fanden dann Platz bei einem Vietnamesen, der eine der Vorspeisen phantasievoll mit „Gedünstete Gefühle“ übersetzt und an die Tafel geschrieben hatte. Ich fand den Namen schön. Es schmeckte auch gut.
Links am Nebentisch im italienischen Café sitzen jetzt drei junge Frauen, die ihren Start ins Wochenende mit Cappuccino, Apfelschorle und Weißwein feiern. Und den Vorspeisenteller bitte, aber ohne Käse und Schinken, nur Gemüse. Dann geht das Gespräch zu den neuesten Projekten über, die man gerade bearbeitet.
Rechts am Tisch hat sich eine alte Dame mit Krückstock niedergelassen. Wir staunen, dass in diesem Viertel überhaupt noch alte Menschen wohnen. Ansonsten sieht man hier nur noch dynamische junge Projektbearbeiter, Berlintouristen mit ihren Rollköfferchen und mittelalte Mütter und Väter, die nachmittags ihre Kinder von der Kita in die nahegelegene Eigentumswohnung heimführen.
Die alte Dame möchte gern drei Fotos (analog!) bei ihrer Bekannten um die Ecke in den Briefkasten werfen. Außerdem fragt sie sich, ob sie noch Zeit für ein Getränk hat, weil um acht das Konzert in der Kirche nebenan beginnen soll: Liebeslieder seit 1450. Sie schaut ein bisschen skeptisch auf ihre Einladungskarte. Wir beruhigen sie, dass die Liebeslieder von 1450 sicher auch noch die paar Minuten Zeit haben, bis sie ihr Wasser getrunken hat. Die muntere Dame lacht.
Wenig später lassen sich zwei junge Frauen am Tisch nieder. Inzwischen ist der Stromausfall vorbei, womit leider auch der wichtigste Gesprächsfüller und Aufreger dieses Abends entfallen ist. Schade. Es war so lustig zu sehen, wie Menschen die Fassung verlieren, wenn es mal ein paar Minuten keinen Strom gibt. Man merkt auch bei geschlossenen Augen, dass der Strom wieder da ist. Statt des Handy-Klingeltons des Wirts (womit er über den neuesten Stand des Stromausfalls informiert wurde) hört man nun wieder leise hämmernde Techno-Rhythmen.
Am Nebentisch haben sich die beiden jungen Damen inzwischen anhand der Speisekarte über die Zusatzstoffe informiert. Fußnoten 2, 3, 5 und 7! Leise Entsetzensschreie. Und die schwarzen Oliven sind geschwärzt. Es naht der Untergang des Abendlands.
Nachdem die Bestellung trotz der gefährlichen Ziffern erledigt ist, widmen sich die beiden unüberhörbar ihrem Hauptthema. Es geht um Parkett und Laminat, um Verlegungskosten pro Quadratmeter und um Designersessel, von denen man zwei für den Preis eines halben bekommen hätte, oder auch umgekehrt.
Unser Bier ist gottseidank leer, wir wollen auch nicht mehr wissen, was um alles in der Welt mit einem halben Designersessel anzufangen wäre. Wir sind weder Eigentumswohnungsausstattungsberater noch Lebensmitteltechniker; das Kostenpalaver nebenan wird unerträglich.
Flehend sehe ich meinen Begleiter an. Ob er nun endlich versteht, warum ich freiwillig nicht mehr vor die Haustür gehen mag? Einfach, weil dieses Geplapper da draußen so ätzend ist. Menschen haben ja leider keinen Stromausfall.
Ich, der Dinosaurier, hätte gern in aller Lautstärke erzählt, dass monatliche Stromausfälle früher in diesen Vierteln ziemlich normal waren. Ebenso wie im Winter eingefrorene Wasserleitungen und eingefrorene Scheiße in den Klos. Ich hätte sogar gern eine kleine Show hingelegt, mein Gegenüber dramatisch angebrüllt mit: „Du Scheißkerl! Nach all den Jahren! Wie kannst du es wagen!“ Einfach nur, um nach all den Stromausfall-, Zusatzstoff- und Laminat-Gesprächen mal was deftig Interessantes auf die Bühne zu bringen; damit alle was Spannendes erleben können und atemlos zuhören. Aber mein Gegenüber ist zu schüchtern und zu harmoniesüchtig. Er lebt ja auch im verträglichen Wedding. Es wäre ihm peinlich.
Der freundliche italienische Wirt muss bald aufgeben, erfahre ich später. Griechen haben das Haus gekauft und die Gewerbemiete saftig erhöht, die der Italiener nun nicht mehr zahlen kann. Im Oktober ist Schluss. Davon wissen die jungen Frauen mit ihren Zusatzstoff-Problemen nichts.
„Stromausfall? Nö, nix gemerkt“, sagen die Jungs zu Hause. Und widmen sich wieder ihren Displays.
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