18. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2015

Carmen-Maja Antoni – die Kleene mit der großen Klappe

von Reinhard Wengierek

„Ich war elf und hatte weiße Kniestrümpfe an.“ – Ja doch, sie fing sehr früh an: Als Jungpionier mit blauem Halstuch im DDR-Kinderfernsehen mit den kabarettistisch gefärbten Nummern der „Blauen Blitze“. Und prompt folgten erste Filmrollen für die süße Rotzgöre mit dem blonden Strubbelkopp aus der Reihenhaussiedlung in Berlin-Adlershof, wo Carmen-Maja Antoni am 23. August 1945 als „Nichtwunschkind“ in nicht eben üppig kleinbürgerliche Verhältnisse hineingeboren wurde. Noch vor ihrem Schulabschluss kam die Hochbegabte als jüngste Studentin an die Filmhochschule Babelsberg. Dann ans Hans-Otto-Theater Potsdam und gleich danach an die Spitze, an die Volksbühne Berlin zu Benno Besson. Seit 1976 ist sie, die „Kleene“ mit der großen Klappe und dem Schalk im Nacken (oder einem allertraurigsten Ernst im Herzen), am Berliner Ensemble. Und das bis heute; jetzt freilich nicht mehr im Festengagement, sondern als hoher Gast – und Kassenmagnet.
„Eine kleine große Kämpferin mit leuchtenden Augen und unverwechselbarer Stimme, die mit ihrem Körper größte Bühnen zu füllen und ihr Publikum zu verzaubern vermochte“, so beschrieb der Dichter und Dramatiker Christoph Hein „seine“ Antoni. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ rief ziemlich spät und überrascht: „In der DDR war sie ein Star!“ Das war unsereins damals im nüchternen Osten gar nicht so recht bewusst. Ja schon, die Antoni war bekannt; vor allem aber war sie den Leuten mit ihrer gewitzten Unverblümtheit so etwas wie eine Volksschauspielerin. Doch ein Star? – Aber als Peter Palitzsch 1990 zurück kam ans Berliner Ensemble, da hielt er die Berühmte für eine Maskenbildnerin. Unglaublich.
Erst BE-Intendant Claus Peymann begriff, was er an dieser Künstlerin hat. Jetzt feiert man sie als „Giulietta Masina des Ostens“. Und Peymann befeuerte alsbald und unablässig mit ganz großen Aufgaben ihre sozusagen zweite grandiose Karriere, die jenseits der 55; etwa, bloß um drei Beispiele zu nennen, in Werner Schwabs schwarzem Schwank „Präsidentinnen“, in Brechts „Mutter“ und „Mutter Courage“. – Carmen Maja Antoni kannte ja noch Helene Weigel, die am Schiffbauerdamm den Planwagen zog. Die Marketenderin war deren Rolle, in der sie alsbald zur weltberühmten Legende wurde. „Nun ist es meine“, sagt die Antoni mit lässig weggestecktem Stolz. Und mittlerweile ist auch diese als ihr großes Kunststück legendär – und ganz eigenständig durch, so könnte man sagen, ihre so besondere berlinische Gewitztheit. Dafür gab es bislang jedes Mal standing ovations. – Klar, die Antoni ist absoluter Publikumsliebling, man kommt ihretwegen ins Theater. Man liebt sie.
Freilich, es dauerte seine Zeit, bis Peymann, der anno 2000 als BE-Chef antrat, diese so herrlich schrundige, durchtrieben schillernde Perle im Ensemble wirklich wahrnahm; seine Vorgänger nach 1990 waren diesbezüglich ziemlich blind. Die Antoni ist Peymann, diesem – so sagt sie – „genialen Berserker“, bis heute dankbar für ihre „Wiederentdeckung“. Auch wenn es unter ihm nicht immer einfach, also immer „anstrengend“ war. Wenn es denn üblich sei, von Regisseuren herumkommandiert zu werden („eine Schattenseite des Schauspieler-Berufs“), dann kommandierte Peymann wohl besonders hingebungsvoll. „Aber ich bin Gott sei Dank überhaupt nicht nachtragend. — Die Leute denken ja immer, mein Beruf besitze Sonnigkeit, doch das stimmt nicht, er besitzt Schwere. Ich freilich bin ein Zugpferd“, mit nicht selten mehr als zwanzig Vorstellungen im Monat und daneben den Proben. „Doch Zugpferde, die werden am Theater gepeitscht, nicht gestreichelt.“ Und „Zerbrechlichkeit bei der Arbeit“, die mag sie nun überhaupt nicht. „Da will ich kräftig und großartig, da will ich ganz da sein.“
Sie war es so gut wie immer; schon unter Regie-Königen wie Heiner Müller, Manfred Wekwerth, Peter Zadek oder George Tabori. Doch Benno Besson, der Lehrer aus ferner Volksbühnen-Zeit, der sei wirklich prägend gewesen. Der habe gesagt: „Willst du singen? Also sing!“. Seither hat Carmen Maja Antoni Liederabende im Repertoire. „Besson hat mich gelehrt, mein Wesen mit Frechheit auf die Bühne zu packen.“ Er war ihr großer Mutmacher, das Ureigene, das Zähe, Skeptisch-Schüchterne und das selbst im Kummer Komische pointiert auszuspielen. Und noch dazu ihr spezielles Anderssein (der Zwerg, Gnom, Clown, der Kobold und Kumpel) jenseits von klassisch-imponierender, langbeinig triumphierender Schauspielerinnen-Schönheit, was ihr, sie sei schließlich auch dünnhäutig, einige Komplexe hätte aufbürden können. Doch sie nahm es, unverwüstlich und trotzig, wie sie sich gibt, „als einen Segen“. „So konnte ich in Ruhe Schauspielerin sein.“ Zwar gäbe Schönheit eine gewisse Leichtfüßigkeit – „ich aber musste auf schweren Sohlen laufen“. Passt ihr! Doch man merkt es nicht.
Das wurde seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten meist so gesehen und belohnt, gern auch mit Hauptrollen im Theater (Grusche, Shen Te, Eva im „Puntila“). Und mit unzähligen großen, aber auch kleineren Rollen im Film; zunächst Defa und DDR-Fernsehen. Nach 1990 im TV beispielsweise „Rosa Roth“ mit Freundin Iris Berben, in der Strittmatter-Verfilmung „Der Laden“ oder den Dorfpolizist-Krause-Filmen (in Krause steckt ja ein gehöriges Stück Antoni und umgekehrt) sowie im Kino „Der Vorleser“ oder „Das weiße Band“ von Michael Haneke. – Doch für jedes ihrer beiden Kinder verzichtete die tolle Mama auf einen großen Bühnen-Klassiker: Erst bei Sohn Jacob auf Tschechows „Möwe“, dann bei Tochter Jenny auf Shakespeares „Hamlet“. „Aber was bedeutet schon eine Hauptrolle gegen ein wunderbares, winziges neues Kind im Arm?“ Die Gören sind mittlerweile erwachsen, und die Antoni wechselte daheim längst ins schöne Fach der Großmama.
Doch was heißt hier „daheim“. Es gäbe noch so allerhand alte Schachteln, die sie nicht gespielt habe, murmelt sie. „Da bin ich ganz offen…!“

Am 23. August feiert Carmen-Maja Antoni ihren 70. Geburtstag. Der Autor und die Redaktion gratulieren von Herzen!