18. Jahrgang | Sonderausgabe | 13. Juli 2015

Reden auf dem Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935

Heinrich Mann

Es ist recht merkwürdig, dass im Jahre 1935 eine Schriftsteller-Versammlung nach der Freiheit des Denkens verlangt: denn schließlich, das geht hier vor. Im Jahre 1535 wäre es neu gewesen. Die Eroberung des individuellen Denkens, damit fängt die moderne Welt an, – die jetzt der Auflösung nahe scheint. Dadurch wird alles wieder in Frage gestellt, sogar was ganze Jahrhunderte lang erledigt gewesen war. Die Gewissensfreiheit, so viele Geschlechter haben um sie gekämpft, und jetzt ist sie nicht mehr sicher. Das Denken selbst ist gefährdet, und doch ist der Gedanke der Schöpfer der Welt, in der wir noch leben.
Nicht nur aus taktischen Gründen vermeide ich, von einem einzelnen Land zu sprechen. Die bewusste Tendenz ist allgemein, wenigstens im Westen. Die Glieder einer und derselben Gesellschaft sind auch nicht abzutrennen. Alle werden denselben Weg gehen und das gemeinsame Geschick erfahren. Die Symptome derselben organischen Erkrankung äußern sich an den verschiedenen Stellen mit mehr oder weniger Heftigkeit: weiter lässt sich nichts sagen. Gewiss, die Freiheit zu denken ist vorhanden, sonst hätten wir überhaupt nicht zusammenkommen können. Wo sie aber noch besteht, hat man leider nicht den Eindruck, dass sie für lebensnotwendig gilt. Ein Land dagegen, das den Gedanken schon unterdrückt hat, bekennt sich laut zu der Meinung, dass die Unterdrückung des Gedankens durchaus lebensnotwendig ist. Der Führer eines Zwangsstaates wird schlankweg fordern, dass die Pressefreiheit in dem benachbarten Staat, der sie noch hat, unterdrückt werden soll. Andererseits ist noch nie gehört worden, dass Vertreter des liberalen Staates auch nur die geringste Freiheit verlangt hätten für das Volk nebenan, das alle Freiheiten verloren hat. Da hat man den entscheidenden Unterschied. Es sind zwei entgegengesetzte Lebensauffassungen; aber die eine fühlt den Kraftzuwachs und geht zum Angriff über.
Widerstand ist geboten. Man muss sich wappnen, nicht mit Geduld, sondern mit gefestigten Überzeugungen. Man muss Beispielen folgen und sich einig werden, was zu tun ist. Vor allem scheiden wir die wahren Literaturen von den verlogenen, was durchaus möglich ist. Jeder erkennt ohne Weiteres, auf welcher Seite der Glaube wie auch die Wissenschaft echt ist, und wer die Zukunft hat. Wenn Schriftsteller sich bereit finden, Treue einem Regime zu geloben und gegen seine Staatslehre nichts zu unternehmen, dann können sie offenbar gutgläubig sein. Man muss nicht unbedingt ein Einzelgänger sein. Man sinkt nicht herab, weil man Grundsätzen, die jeder anerkennt, freiwillig zustimmt. Es hat liberale Literaturen gegeben und gibt jetzt sozialistische. Bekanntlich waren die liberalen Literaturen großartig zur Zeit des bürgerlichen Aufstieges. Man wird auch zugeben, dass bürgerliche Gesellschaften und Staatsformen damals mehr oder weniger durchgeistigt worden sind von den liberalen Ideen, und dass diese manchmal zu Verwirklichungen geführt haben, auf sittlichem und sozialem Gebiet.
Vor kurzem tagte nun ein literarischer Kongress in der Hauptstadt einer großen sozialistischen Republik. Aufsehen und Bewunderung erregte eine Frau, die als Bäuerin angefangen hatte und aufgestiegen war bis zum Rang eines Universitätsprofessors. Das hatte sie erreicht, nicht durch Beziehungen, sondern weil sie ernsthaft studiert und Prüfungen bestanden hatte. Ein Staat und eine Gesellschaftsform müssen wahrhaftig großes Vertrauen genießen bei ihren Angehörigen, wenn eine Frau aus dem Volk sich die Mühe nimmt, alles zu lernen, was der Staat und die Gesellschaft verlangen. Dafür tut not Begeisterung, mitsamt der Seelenkraft, die nur aus tiefster Durchdrungenheit entsteht. Da hunderte Millionen Menschen überzeugt sind, dass sie sich erheben zu einer neuen Wahrheit, kämen sogar Meisterwerke nicht unerwartet.
Erstaunlich wäre es dagegen, wenn Meisterwerke dort auftauchten, wo Wahrheitsliebe missfällt und überhaupt nicht hervordarf. Angenommen, ein Regime oder System zwänge alle, die von ihm abhängen, ihre geistige Vergangenheit zu verleugnen; angenommen, es erlaubte ihnen nicht mehr, sich Kenntnisse oder auch nur Informationen zu verschaffen; nichts weiter würde es ihnen beibringen, als zu lügen. Dort wird eine Frau aus dem Volk als Universitätslehrer allerdings nicht vorkommen. Leichter wäre es möglich, Studierte im Zustand von Analphabeten vorzufinden. Unter dem Regiment der Lüge muss einer sich durchaus blöd stellen, damit er es zu etwas bringt. Die Gelehrten geben Albernheiten von sich und sind sich dessen bewusst. Man treibt Wahrheitswidrigkeiten um des lieben Lebens willen, um in Amt und Stellung zu gelangen oder nur in Ruhe gelassen zu werden. Die erniedrigten Intellektuellen verachten ihre Erniedriger und sich selbst. Woher sollten sie die Kraft nehmen, etwas hervorzubringen, Meisterwerke gar. Die Wissenschaft wird herunterkommen, und eine Literatur, die Dienstvorschriften unterliegt, wird wesentlich gar nicht vorhanden sein.
Man beachte, dass die Frage der Würde für jeden Denker zugleich eine Frage praktischer Natur ist. Seiner Würde beraubt, wird er nicht mehr produzieren. Oder er fertigt Arbeiten, die wegen mangelnder Nützlichkeit gerade von jenen zurückgewiesen werden, die sie ihm aufgezwungen haben. Aber das ist noch nicht alles. Es folgen daraus ernste Nachteile für die ganze Nation, die davon betroffen ist. Man bedenke, dass man dort nicht mehr lernt. Studenten ohne Abschluss gelangen auf den Platz missliebiger Professoren, die man vertreibt. Schülern, die sich auf die rechte Seite gestellt haben, werden die Prüfungen erleichtert. Da andererseits viele besonders wertvolle Gelehrte das Land verlassen haben, wird in einigen Jahren die Welt Kenntnis nehmen müssen von dem geistigen Abstieg einer Nation, die sich auch in angewandter Wissenschaft nur deshalb hatte auszeichnen können, weil seit sehr langer Zeit das Denken bei ihr frei war. Keine chemischen Erfindungen und erst recht keine große Industrie, ohne dass Andere – ganze Jahrhunderte hindurch – frei gedacht und geschaffen haben. Dagegen wird die geistige Fruchtbarkeit einer Nation vernichtet durch Lügen und durch Heuchelei. Da ist die Verfehlung an der intellektuellen Würde mit klingender Münze zu bezahlen. Offensichtlich wird, dass die beleidigte Würde sich an einer ganzen Gesellschaft rächt.
Wir dürfen nicht warten, bis dies Unglück vollständig wird und sich ausdehnt über noch mehr Länder der westlichen Gesittung. Zu verteidigen haben wir eine ruhmreiche Vergangenheit und was sie uns vererbt hat, die Freiheit zu denken und nach Erkenntnissen zu handeln. Wir haben strahlenden Beispielen zu folgen. Wir sind die Fortsetzer und Verteidiger einer großen Überlieferung: Wir, nicht aber die Anderen, die den Unterdrückern des Gedankens zu willen sind oder ihnen Sympathie zeigen. Wenn die Unterdrücker ihrerseits grosstun, als verteidigten sie irgend etwas, dann wüsste man gern, was. Die westliche Zivilisation? Sie pfeifen drauf und führen sie fälschlich im Munde. Anstandslos opfern sie das Denken, wenn es ihre Interessen bedroht oder ihnen persönlich lästig wird. Schon sind sie da, mit Verbrennungen, Ausbürgerungen und den anderen Mitteln, die der Höhe ihres Geistes entsprechen.
Diese Unterdrücker haben Denken nie gelernt, das sieht jeder beim ersten Blick. Wer würde es, wie sie, darauf anlegen, die ganze Welt herauszufordern? Wer legt jede Menschlichkeit ab und prahlt noch damit; gesteht offen, dass er alle anderen Menschen und Rassen für unebenbürtig hält und sie wütend hasst; wer reizt absichtlich die unermesslichsten Völkermengen und mächtigsten Gemeinschaften? Wer wird das alles gegen sich aufbringen, wird Ränke und Verschwörungen spinnen rast- und zwecklos, aus Großmannssucht, infolge des traurigsten Gefühls von Minderwertigkeit? Dummköpfe und Schlechtweggekommene: so viel steht fest. Die Pflicht aber verlangt von den Intellektuellen, dass sie sich widersetzen mit allen Kräften, wenn Dummköpfe sich aufwerfen zu Weltbeherrschern und zu Zensoren. Dumme geht das Denken nichts an, das Handeln übrigens ebenso wenig. Gehandelt soll werden, nicht von Kommissbrüdern, denen Fabrikanten die Macht verleihen, sondern von Männern der allerhöchsten Erkenntnis und einer unvergleichlichen Geistesmacht. Nur der Geist sichert die nötige Autorität, um Menschen zu führen: gemeint ist ein Geist der Erkenntnis und Festigkeit. Unter anderen Umständen als den heutigen müsste das nicht erst gesagt werden: Intellektuelle haben oft genug öffentlich gehandelt. Intellektuelle haben die Geschicke eines Landes gelenkt, und die Geschicke aller Länder mit beeinflusst. Es genügt, Namen zu denken wie Georges Clemenceau, Lenin, Thomas Masaryk.
Seit einiger Zeit sinkt das Niveau der Mächtigen der Erde. Stellenweise reicht es nur noch bis zur moralischen Unterwelt. So etwas vergreift sich an Religion, Wissenschaft, Gesellschaftslehre, unterschiedslos an allem, was sie nichts angeht. Verstehen kein Wort davon. Losgelassener Zerstörungstrieb, sonst haben sie nichts. Schaden! Vernichten, was Andere geschaffen und groß gemacht haben, unser Geisteserbe! Natürlich wird unser Geisteserbe nicht untergehen; Lehren, Erkenntnisse, höchstes Streben werden nicht unterliegen dem Neid eines Gesindels, das ihrer nicht wert ist. Zeitweilig ist allerdings ein tolles Gesindel hergefallen über die westliche Zivilisation. Man wird mit ihm fertig werden; es ist eine Frage geistiger Zucht und Festigkeit. Man lasse sich nicht beirren: unbesiegbar war noch keine Barbarei. Die Dummheit erhebt den Anspruch, die Welt zu beherrschen? Darauf gibt es die Antwort, die Flaubert erteilt hat: das Beste wäre, eine Akademie von Wissenden regierte den ganzen Planeten. Mit Höchstforderungen muss die Intelligenz auftreten gegen Feinde, die von ihr, nur von ihr das Schlimmste zu fürchten haben.
Hämmern wir den Geistern ein, was sonnenklar ist: dass ein Regime, das die Schriftsteller verfolgt, knechtet, herabwürdigt oder niederschlägt, in keiner Beziehung, und was es auch vorgäbe, Glauben verdient. Es hat sich zu gut gesichert gegen die Wahrheit. Redet ein solches Regime vom Frieden, dann gehen nur Mitschuldige ihm darauf ein. Von Zivilisation? Was wird aus der Zivilisation, dort wo die Schriftsteller verhasst sind? Eine Zivilisation auf Zeit — das Sittliche ist schon geopfert, damit glauben die paar Nutznießer ihre Technik und ihr Geld zu retten. Sie würden nur erreichen, dass Katastrophen das Ganze verschlingen. Entweder die Würde des Geistes besteht, oder gar nichts hält die Menschen bei einer Gesellschaftsordnung. Das Recht jeder Gesellschaftsordnung reicht genau so weit, als sie den Gedanken anerkennt und bemüht ist, ihn zu verwirklichen.

 

Magdeleine Paz

Sowie ich die kleine Schrift gelesen hatte, die Ihren Arbeiten gewissermaßen als Vorwort dient, beschloss ich, dass ich auf diesem Kongress sprechen würde. Den Gefahren entgegentreten, „die die Kultur bedrohen“, „die Mittel zu ihrer Verteidigung prüfen und diskutieren“ – das wollen Sie: Ich habe Ihnen also etwas zu sagen.
Ich komme nicht hierher, ich möchte das deutlich betonen, um die geringste Polemik zu entfachen, Zwietracht zu säen noch diesen oder jenen Menschen aus diesem oder jenem Orden anzugreifen. Dazu spüre ich zu tragisch, dass wir, ich sage nicht eine Epoche, sondern einen Tag erleben, wo das Denken entschlossen sein muss zu positiven Taten und wo Einigkeit über gewisse wesentliche Punkte eine Frage von Leben und Tod ist.
Völlige Überzeugung, das Denken mit all dem Mut und all der Klarsicht zu verteidigen, die eine solche Verteidigung erfordert, Vertrauen in jene, die sich eine so schwierige Aufgabe gestellt haben: das allein sei meine Einführung, das allein meine Vorrede.
Ich begebe mich also ohne Weiteres mitten in meinen Gegenstand.
Um den fünften Punkt der von Ihnen entworfenen Tagesordnung zu illustrieren – „Die Würde des Denkens, Ausdrucksfreiheit, Direkte und indirekte Formen der Zensur, Schriftsteller und Exil“ – bringe ich einen Namen, Fakten, eine Situation bei: ich fülle mit Fleisch, einer Seele, einem Geist und einer Feder jeden Ihrer Paragraphen, und ich stelle Sie vor eine Alternative, der Sie um nichts auf der Welt von nun an ausweichen können: Sie selbst werden sie schaffen angesichts der Affäre Victor Serge.
André Malraux hat hier gesagt (ich zitiere sinngemäß): „Wenn ich über Individuen spreche, spreche ich über Ideen.“ Ich meinerseits übernehme diese Erklärung: Auch ich werde das Gebiet der Ideen nicht verlassen.
Zuerst: Wer ist Victor Serge?
Wenn viele von Ihnen ihn nicht kennen, so kennen ihn noch mehr vielleicht schlecht, denn sie wissen nur um seine Legende. Wir sind nicht hier, um Legenden auszuschmücken, wir sind hier, um uns um Wahrheit zu kümmern. Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen: Die Bildung Victor Serges hat ihre Quelle in der Anarchie. Unter seinem Schriftstellernamen findet sich ein anderer: Viktor Kibaltschitsch. Als er 17 bis 20 war, benahm sich der junge Kibaltschitsch, Drucker von Beruf, als glühender und überzeugter Libertär. Einige seiner Kameraden waren die Protagonisten der Bonnot-Affäre. Mit ihnen verhaftet, völlig unbeteiligt an den Taten, die ihnen vorgeworfen werden, weigert er sich, gegen sie auszusagen. Er ist 20, er macht damals seinen ersten Schritt auf dem Weg des Mutes: er kostet ihn fünf Jahre Gefängnis.
Kaum freigelassen, fährt er nach Barcelona, wo er an einem Aufstandsversuch teilnimmt. Dort lässt ihn das Echo der Oktoberrevolution erzittern. Das Herz, das Ohr, sein ganzes Wesen antworten auf den unwiderstehlichsten der Rufe. Halten wir einen Moment inne, um zu grüßen: Nicht bei allen Freunden der Revolution geht ihre Freundschaft bis in deren Geburtsstunde zurück!
Er kehrt nach Paris zurück mit dem Ziel, dorthin zu gelangen, er muss sich denen anschließen, die die alte Welt zerstören, um eine neue Welt zu erbauen; das Warten wird ihm unerträglich: es gelingt ihm schließlich, mit einer Gruppe von Russen gegen Franzosen ausgetauscht zu werden: so landet er im Februar 19 in Leningrad. Im März desselben Jahres wird in Moskau die Kommunistische Internationale gegründet. Victor Serge tritt im Mai in die russische kommunistische Partei ein, die damals, wie Sie wissen, nur erprobte Kämpfer aufnimmt. In solchen Zeiten vertraut man nicht dem erstbesten Hergelaufenen die Arbeiten an, die die Anstrengungen des Weltproletariats zusammenfassen sollen: Man beauftragt ihn, im Petrograder Verlagsbüro mitzuarbeiten, er tut das aktiv, veröffentlicht zahlreiche Broschüren (über den Bürgerkrieg, über den schrecklichen Tod der drei Helden Raymond Lefebvre, Vergeat und Lepetit, über die Pariser Kommune, viele andere). Man beauftragt ihn mit der französischen Ausgabe der Zeitschrift Die Kommunistische Internationale, man nutzt seine technischen Kenntnisse als Drucker, um die Druckerei der Kommunistischen Internationale aufzubauen, er widmet dem all seine Kräfte. Im Oktober 19, als Judenitsch Petrograd bedroht, meldet er sich zu seiner Verteidigung, und erneut gibt er seine ganze Person an diese Aufgabe.
Die Revolution ist gerettet, man sieht ihn im leidenschaftlichen Kampf an der ideologischen Front, an der Front der Propaganda, der Literatur. Er ist einer der Gründer des Revolutionsmuseums, das alle Reisenden in Leningrad besichtigt haben, er veröffentlicht „Stadt in Gefahr“, wo er das „Wunder an Energie“ feiert, das der Revolution den Sieg brachte: wer diese Seiten gelesen hat, muss von dem völligen Anschluss des ehemaligen Anarchisten an die bolschewistischen Prinzipien mitgerissen sein. Er veröffentlicht dann Studien über die Ochrana, ein Werk über Lenin. Es gibt keinen eifrigeren Propagandisten des Bolschewismus unter den Anarchisten und Gewerkschaftern, die zu den Sowjetkongressen kommen, keinen besseren Propagandisten unter den Schriftstellern, die aus dem Ausland kommen. Aus allen Zeugnissen, die wir darüber besitzen, zitiere ich das von Duhamel: „Victor Serge hatte den marxistischen Kommunismus vorbehaltlos studiert. Er sprach darüber mit einer klarsichtigen, nicht beschränkten, sondern wahrhaft aufrichtigen und menschlichen Leidenschaft, die Achtung erzwang … Während dieser paar Tage in Leningrad hat Victor Serge Sowjetrussland keinen geringen Dienst erwiesen: Er hat ihm – zumindest für mich – ein wahrhaft weises, menschliches, achtenswertes Antlitz gegeben.“
Ich zitiere weiter das Zeugnis von Luc Durtain, der mir selbst gesagt hat: „Wenn ich ein Freund der Sowjetunion geworden bin, so verdanke ich das zu einem großen Teil Victor Serge. Er hat sich während dreier Tage in Leningrad als der beste Führer erwiesen, um mich das neue Russland verstehen und lieben zu lassen.“
Mit der Wiedergabe dieser Zitate, die sich auf das Jahr 1927 beziehen, bin ich der Chronologie vorausgeeilt, ich bitte Sie jedoch, dieses Datum im Gedächtnis zu behalten, bevor wir wieder zurückgehen.
Wir befinden uns in der Epoche, in der Victor Serge an der Zeitschrift Clarté mitarbeitet, die von Henri Barbusse, Raymond Lefebvre, Vaillant-Couturier und mir gegründet wurde; in der er zugleich an La Vie Ouvrière, am Bulletin Communiste, an der Humanité mitarbeitet und seine Übersetzung der Werke Lenins beginnt.
Im März 1921 geht die Erschütterung von Kronstadt vorüber, ohne ihn zu beirren. Er arbeitet weiter an den Veröffentlichungen der Kommunistischen Internationale wie an denen des Leningrader Staatsverlags mit. Im September dieses Jahres, als sich in Deutschland die Krise ankündigt, die 22/23 ausbrechen sollte, wird er nach Berlin geschickt. Man beauftragt ihn mit der Sicherung der französischen Ausgabe der Inprekorr, die, alle Genossen wissen das, eine unerschöpfliche Quelle von Informationen über Russland in einer Zeit war, in der man wahrhaft kämpfen musste, um Verständnis und Liebe für Russland zu erhöhen, und die eine Zusammenfassung des revolutionären Denkens und der revolutionären Taktik im Weltmaßstab bietet. Seine Arbeiten selbst führen Victor Serge zum Vervollständigen seiner reichen theoretischen Bildung, er ist der gebildetste Marxist, der orthodoxeste Kommunist geworden; das Denken der großen Meister ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen: es erstrahlt unter seiner Feder. Völlige Übereinstimmung ist zwischen den deutschen Kommunisten und ihm entstanden, er besitzt das volle Vertrauen der Führer der Internationale. Nach dem Scheitern der deutschen Bewegung schickt man ihn nach Wien, um die Inprekorr fortzusetzen: Die vertraulichen Aufgaben, die ihm anvertraut werden, sind nicht mehr zu zählen.
Er kehrt nach Russland zurück, wo er seine Mitarbeit am Verlagsbüro der Kommunistischen Internationale wieder aufnimmt.
1924. Lenin ist tot. In diesem Augenblick wird ein Unbehagen innerhalb der kommunistischen Parteien spürbar – wir wollen es nicht analysieren, nur konstatieren –, die Ausschlüsse vervielfachen sich, Trotzki gerät in Konflikt mit dem Zentralkomitee.
Victor Serge hat Gelegenheit gehabt, Trotzki während der Judenitsch-Offensive direkt am Werk zu sehen, er weiß wie es das ganze Russland der Fabriken und der Feder weiß, was die Revolution dem Schöpfer der Roten Armee verdankt, er meint, dass Trotzki recht hat, und, sprechen wir es aus, gehen wir nicht um das Verbrechen herum: im Grunde seines Herzens ist er Trotzkist. Aber sagen wir genauer, nicht um sein Verbrechen zu mildern oder zu entschuldigen, sondern weil es ein Fakt ist, er hält keine Rede, schreibt keinen Artikel, entwickelt keine Agitation: Alles beschränkt sich für ihn auf private Gespräche, Diskussionen unter Freunden und Briefe an ausländische Freunde.
In der Folge einiger kurzer Beiträge in den Versammlungen seiner Parteizelle (die sich ausschließlich mit taktischen Fragen befassen) wird Victor Serge aus der Russischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Wir befinden uns im Jahre 1927, in demselben Jahr, in dem er Schriftsteller, die er begleitete, die Russische Revolution lieben lehrte, ohne sie an seinem inneren Streit zu beteiligen. Kurze Zeit darauf, und aus keinem anderen Grund als seinem Ausschluss, wird er von der GPU verhaftet; ohne Urteil wird er vierzig Tage im Gefängnis festgehalten, wo eine schwere organische Störung, die auf das Gefängnisregime zurückzuführen ist, sein Leben in Gefahr bringt.
Seine politische Aktivität in Russland ist damit beendet, nicht eine Zeile von ihm könnte dort mehr gedruckt werden; da seine schriftstellerische Tätigkeit paralysiert ist, ersucht er um die Rückkehr nach Frankreich; seine letzte Botschaft an das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets vom 16. Oktober 1932 wird am 16. Januar 1933 ohne Begründung abgelehnt. Er lässt in Frankreich seine herrlichen Romane erscheinen: „Menschen im Gefängnis“, „Geburt unserer Kraft“, „Weißes Meer“. Ein dichtes Werk, ein herber Ton, machtvolles Denken, Wahrheitsbesessenheit, eine junge Seele, ein neuer Ton, und der unzerstörbare Glaube an die Revolution.
Das ist die Zeit der Veröffentlichung seiner bewundernswerten Gedichte, seiner historischen Werke (man kann die russische Revolution nicht studieren ohne sein meisterhaftes Werk „Das Jahr I der Russischen Revolution“) und auch, ich nenne diese Leistung am Schluss, weil sie Sie in erster Linie betrifft – Sie als Schriftsteller beim Schaffen einer neuen Kultur: der wertvolle Beitrag zum Entwurf einer proletarischen Kultur. Mit Henry Poulaille und Marcel Martinet ist Victor Serge jener französischsprachige Schriftsteller, der am tiefsten und weitesten über dieses Thema nachgedacht hat, am aufrichtigsten und am stärksten.
Am 8. März 1932 wird er erneut verhaftet, zur Verbannung verurteilt und nach Orenburg geschickt. Kein Urteil, kein Verteidiger, kein Zeuge, keine Vorladung des Angeklagten vor Gericht: Von der GPU wird eine administrative Maßnahme getroffen, sie schickt ihn zum Nachdenken – sagen wir nicht einmal über die Ausdrucksfreiheit, er hat sich nur privat ausgedrückt, sondern über das Schicksal, das einen Schriftsteller erwartet, wenn er jene Tugend besitzt, die Guéhenno am Schriftsteller lobte, ohne sie doch von ihm zu verlangen: Mut! Denn er hätte, wie viele andere, abschwören können, er hätte mit allen Buchstaben schreiben können: „Ich denke nicht, was ich denke: Ihr wollt meine Feigheit und meine Abdankung, da habt ihr sie im Überfluss.“ Er hat das nicht gewollt. Er hat gewählt. Er hat sich selbst jene Art Schwur geleistet, den Karin Michaelis neulich so beredt darstellte: „Nicht zurückweichen. Niemals. Und, wenn es sein muss, den Preis bezahlen. Und, wenn es sein muss, sein Leben einsetzen.“
Er bezahlt in diesem Moment. Während wir hier sind, der Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Integrität des Denkens, macht das Denken dort unten, im Ural, hinter den Schläfen eines Menschen eine große Anstrengung, um hell zu bleiben und seine Hoffnung auf die Revolution aufrecht zu erhalten.
Ich könnte Ihnen hier in aller Schwärze das Bild des Lebens von Victor Serge seit mindestens drei Jahren entwerfen, ihnen den Mann zeigen, der seine Hände ausstreckt, seine Augen hebt, um zu arbeiten, und geschrieben sieht: Verboten!, ich könnte Ihnen zahlreiche Details über die Existenz einer Familie geben, die jeder Unterstützung beraubt ist, nur durch die Solidarität ihrer französischen Freunde überlebt, ich könnte den Intellektuellen zeigen, der keine Nahrung hat, ohne Bücher, ohne Zeitschriften, ohne Zeitungen und fast ohne Neuigkeiten, ich könnte seine Ängste beschreiben, denn seine junge Frau hat den Verstand verloren nach so viel Verfolgung, so vielen Jahren ohne Behandlung, denn er selbst ist krank: Mit einer bösartigen Anämie musste er Wochen im Krankenhaus zubringen, und ihr Kind war in dieser Zeit eine Waise und lernte sehr früh, was es kostet zu denken, wenn man würdig denken will.
Dieses Bild werde ich nicht malen, denn hier ist nicht der Ort, im Gefühl zu versinken noch an das Mitleid zu appellieren: An diesem Ort muss daran erinnert werden, dass das Denken unwandelbare Rechte besitzt und dass, wenn es ein Land gibt, wo der revolutionäre Geist, die Freiheit des Schriftstellers bewahrt werden müssen, das jenes Land ist, in dem der Oktober stattfand.
Noch immer streng dem Plan folgend, den Sie entworfen haben, gehe ich zum Kapitel „Direkte und indirekte Formen der Zensur“ über und bringe einen letzten Fakt bei, um dieses Kapitel wie die anderen zu illustrieren.
Am 20. Mai 1934 schickte er einen in Orenburg geschriebenen Roman nach der Fertigstellung über Romain Rolland an seinen Pariser Verleger. Das war das einzige Mittel, das ihm blieb, um seinen Beruf als Schriftsteller auszuüben und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich erlasse Ihnen die Schritte, die unternommen wurden, die wiederholten Sendungen, die unternommenen Interventionen: Das für Frankreich bestimmte Manuskript von Victor Serge wird seit mehr als einem Jahr von der sowjetischen Zensur zurückgehalten. Wenn ich hinzufüge, dass dieser Roman zum Thema eine Affäre hat, die sich um 1912 zutrug, und zum Rahmen das Paris jener Zeit, und dass folglich nirgendwo vom heutigen Russland die Rede ist, so werden sie das Ausmaß der Macht genau ermessen können, die die Zensur sich anmaßt, und Sie werden sehen, dass ich Ihr Thema nicht verlasse.
Ich habe die Punkte Ihrer Tagesordnung abgearbeitet, indem ich sie mittels eines lebendigen Beispiels konkretisierte: Mein Vorgehen wäre nicht vollständig, wenn ich Ihnen nicht meine Beweisstücke vorlegte.
Ich habe Ihnen gesagt, das Verbrechen dieses Schriftstellers – außer jenen Altweibergeschichten, die schnell entkräftet sind –, das einzige, das man seit drei Jahren je offiziell hat formulieren können, besteht darin, in Briefen an seine Freunde im Ausland seine Gedanken dargelegt zu haben.
Ich besitze ein Dossier – einen tröstenden Band! –, das später beweisen könnte, dass, wie es von vielen auf dieser Tribüne gesagt worden ist, der revolutionäre Glaube in Sowjetrussland nicht tot ist, nicht das intellektuelle Heldentum, nicht der Sinn für das Menschliche, weder Größe noch die Verbundenheit mit dem, wofür der Oktober gemacht wurde. Ich ziehe aus diesem Stoß Briefe, was sein Wesen ausmacht, das Hauptmotiv, um das alle anderen Gedanken kreisen und das als Leitmotiv wiederkehrt:
„Folgendes will ich in voller Ruhe hier betonen, von dem ich möchte, das man es kennt, falls es mir irgendeine Verfolgung einbringen sollte: … In drei wesentlichen, über allen taktischen Erwägungen stehenden Punkten bleibe ich, auch in Zukunft, ein Verweigerer, ein bekennender Non-Konformist, der nur gezwungen schweigen wird: 1. Verteidigung des Menschen. Respekt vor dem Menschen. Rechte, Sicherheit, Wert müssen ihm wiedergegeben werden. Ohne das kein Sozialismus … 2. Verteidigung der Wahrheit. Der Mensch und die Massen haben ein Recht darauf … Ich halte Wahrheit für eine Bedingung intellektueller und moralischer Gesundheit. Wer Wahrheit sagt, sagt Aufrichtigkeit. Recht des Menschen auf das eine wie auf das andere. 3. Verteidigung des Denkens … Ich meine, dass der Sozialismus auf intellektuellem Gebiet nur wachsen kann durch den Wettstreit, die Suche, den Kampf der Ideen, dass der Irrtum, der mit der Zeit immer durch das Leben selbst korrigiert wird, nicht zu fürchten ist – wohl aber Stagnation und Reaktion; dass der Respekt für den Menschen das Recht des Menschen einschließt, alles zu kennen und frei zu denken. Nicht gegen die Gedankenfreiheit, gegen den Menschen kann der Sozialismus triumphieren, sondern im Gegenteil durch Gedankenfreiheit, indem er die Lage des Menschen verbessert. Ich treibe hier keine Apologie des Liberalismus (noch immer spricht Victor Serge); ich erinnere nur an das, was von der sowjetischen Verfassung bestätigt wird, was von allen Sozialisten anerkannt und verkündet worden ist.“
Diese Gedanken, die von selbst auf die Tagesordnung dieses Kongresses springen, die zehn, zwanzig Mal von zwei Dutzend Rednern ausgesprochen worden sind, die alles fortsetzen, was hier gesagt worden ist, führen mich zu meiner Schlussfolgerung:
Kongress der Schriftsteller und Verteidiger des Denkens, damit musst Du Dich befassen, aus diesem Stoff Funken schlagen, auf diesem Boden säen! Kongress der Schriftsteller, der Bewusstseinsträger der Massen, der glühenden Verteidiger der Würde, hier steht lebendiges Denken vor Euch: Ihr habt darüber zu befinden und etwas auszusagen, es ruft Euch über oratorische Duelle, das Schweigen der Bibliotheken, die Abstraktionen des Elfenbeinturms hinaus!
Keinen Augenblick sage ich Ihnen: Sie haben einen Menschen zu retten – dafür sind Sie nicht zusammengekommen; aber als Schriftstellerin, deren einziger Stolz darin besteht, keine Zeile geschrieben zu haben, die nicht von dem bescheidenen und brennenden Wunsch getragen war, der Revolution zu dienen, bezeichne ich Ihnen den Imperativ in Ihrer Daseinsberechtigung.
Ich betrachte Ihre gedrängten Reihen, ich sehe hier vor allem leere Plätze, ich sage mir: Dieser Kongress ist nur zusammengekommen, weil es leere Plätze gibt. Die der Konzentrationslager und die der Strafinseln, die Bulgariens und Polens, die, deren Blut noch die spanischen Gefängnisse rötet, die, die langsam in amerikanischen Kerkern verrecken, die, die die Cagoule in Frankreich erstickt, wie René Gérin, die, die auf Erden den Preis zahlen, der gezahlt werden muss, um das Denken von morgen zu gebären; begnügen wir uns nicht damit, sie zu grüßen, sie zu erwähnen, erklimmen wir ihre Höhe: Sie haben den Kalvarienberg bezwungen!
Seien wir Revolutionäre in dem Maße – es ist gewaltig, – in dem Schriftsteller das müssen. Flüchten wir den Konformismus einer untergehenden Gesellschaft – das ist leicht, alles fordert uns dazu auf! –, aber flüchten wir auch, was schwerer ist, den Konformismus, der sich inmitten der Revolution selbst einrichtet, der Ruhm und Ehren bringt, die Unabhängigkeit einschläfert und den kritischen Sinn abstumpft, den die Revolution noch dringender als die sterbende Gesellschaft braucht!
Wenn es nicht in Ihrer Macht steht, in diesem Augenblick die großen Abwesenden an Ihre Seite zu rufen, die die Würde des Denkens mit so großen Opfern so sehr gehoben haben, so sei Ihre erste Tat zumindest, zu tun was Sie tun können.
Damit Victor Serge seiner Arbeit und unseren Aufgaben zurück gegeben werde, damit dieser wahrhafte Revolutionär, vor dem, ich fürchte nicht es auszusprechen, alle hier Anwesenden, die bekanntesten, die berühmtesten, sich nur tief verbeugen können, damit dieser Schriftstellers beweisen kann, dass man überall der Sache zu dienen vermag, der wir dienen, ohne auf die Knie zu fallen, haben Sie nur ein einziges Wort zu sagen. Und dieses Wort werden Sie sagen, Sie können es nicht mehr unterlassen.
Was Sie auch tun, es wird gesagt werden. Ob es aus Ihrer Brust, ob es aus dem Blute von Victor Serge hervorbricht, es wird gesagt werden. Mag sie gehetzt, verfolgt, verboten oder getötet werden, es erhebt sich eine unüberwindliche Kraft des Denkens für mehr Menschlichkeit, mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheit.
Betrachte, o Revolution, den gewaltigen roten Strom, der aus dem Leib Deiner Helden hervorbricht, und verharre, wo die Stimme aus Sibirien sich erhebt, für einen Moment, um die schreiende Wahrheit zu lesen, die Dich zugleich hat bluten und triumphieren lassen!
Es gibt Stimmen, die tötet man nicht!
Es gibt ein Streben, das bricht man nicht!

 

Gustav Regler

Wir wurden wach nach einer Niederlage.
Wir dachten die Prediger der volkreichen Städte zu sein, und wir waren die Prediger in der Wüste.
Mitten im Kampf standen wir und riefen die Massen und mussten plötzlich sehen, wie zwischen uns und dem Volk sich die ungeheuren Götzenbilder einer Vergangenheit aufrichteten, die uns tot für immer erschienen war.
Wir hatten gekämpft gegen die falsche „Theodizee“ von Hegel, während man serienweise schon die Büsten des neuen Gottes Hitler fabrizierte.
Wir stritten über idealistische Philosophen, ohne zu merken, wie nah uns die metaphysischen Gespenster schon gerückt waren.
Jahre hindurch griffen wir die Apostel des „reinen Geistes“ an, liehen uns scharfe Waffen von Marx und Engels und wiederholten, dass die Revolution und nicht die Religion die treibende Kraft der Geschichte sei.
Und plötzlich, nach allen Diskussionen, findet man sich – wie erinnere ich mich noch des Tages! – mit einigen Büchern unter dem Arm in der Wilhelmstraße vor der Berliner Reichskanzlei. Man hört das Schreien einer begeisterten Menge, Arbeiter sitzen auf den Baumästen und strahlen vor Freude, man sieht an den Fenstern die Eroberer, die nichts von den Problemen wissen, die wir so nuanciert und eingehend besprachen, die niemals Hegel und noch weniger Marx lasen und die doch gesiegt haben; die Fahnen wehen, wir stehen in der glücklichen Menge, wir stehen allein und halten die Wahrheit in den Händen wie ein Geschenk, das keiner haben will. Die Gespenster haben sich lebenskräftiger gezeigt als die Lebendigen.
Man gab uns rein politische Erklärungen. Aber lange konnte die Theorie den Abgrund nicht füllen, der klaffte zwischen unserer Verzweiflung und dem Sieg der gegnerischen Demagogie.
Einige von uns flüchteten in die Verachtung des Volkes, Flucht, die unser Charakter und unsere Treue uns verbieten.
Wir aber begannen, uns selbst zu misstrauen. Wir waren gezwungen, unsere Sprache zu untersuchen, die nicht gezündet hatte. Wir durften nicht länger so allein bleiben, in den tauben Raum reden, und der Geist dieses Kongresses gibt uns recht.
Vor den besten Geistern, die hier versammelt sind, verstehen wir, dass es sich nicht mehr darum handeln darf, sich der Wahrheit zu rühmen, die die Erkenntnis sich erkämpft. Die Zeit des sektiererischen Eiferns ist vorüber und mit ihr die Zeit einer Volksliteratur, die das Herz des Volkes nicht erreichte. Mitten im Kampf ist die Stunde der freien Diskussion wieder gekommen. Wir grüßen diesen Kongress als den Beginn einer leidenschaftlichen Suche nach der Wahrheit und sehen mit Erschütterung, wie einer der größten Geister dieses Landes, André Gide, schon einen neuen Weg zeigt, indem er der feindlichen Propaganda entgegentritt und die Vaterlandsliebe nicht mehr den Feinden des Volkes, den Nutznießern des Kriegs überlassen sehen will, sondern auf alle Gefahr hin den geschändeten Internationalismus mit dem missbrauchten Nationalismus kopuliert und für die Revolution beansprucht. Wir haben mit aller Eifersucht das Erbgut zu wahren, das uns die Klassiker der Revolution hinterlassen haben, wir sind aber in gleichem Maß verpflichtet, uns der freien Rede zu stellen, jedem, der sich mit Bedenken und mit dem Willen zur Wahrheit der Bewegung nähert, die wir lieben und für die wir uns verantwortlich fühlen mit jedem Wort, das wir sprechen und schreiben. Und ich zögere nicht, bei dieser Gelegenheit, auch ein Wort an die Freunde zu richten, die noch der Taktik vergangener Tage folgen möchten: die Geister, die hier mit uns sind, gewinnt man nicht mit sentimentalem Anruf und noch weniger mit den Raffinessen schmeichlerischer Werbung. Da wir gläubig sind an unsere Idee, haben wir die Pflicht, diesen Glauben zu übertragen, und wir können es einzig durch die Kraft unseres Worts, durch die Qualität unserer Gedanken.
Hat uns die eigene Literatur nicht Warnungen gegeben? Haben wir uns nicht künstlich einengen lassen? Wir haben an Stelle der Anklage die Klage gesetzt, wir ließen uns forttragen von unserem Kummer; wir kannten keine anderen Kulissen für unsere Werke als die feuchten, düsteren Mauern der Erwerbslosenkeller. Der Jammer übertönte die Stimme der Revolution. Und wir sahen weder die Stärke des Feindes, dessen Bild wir vergröberten, noch jene Zwischenschichten, denen wir in allzu pedantischer Unterscheidung keine Bedeutung zumaßen. Indessen aber hatten jene Millionen von Kleinbürgern ihre Schrebergärten und Sofas und Budiken verlassen; sie waren politisch geworden; sie trugen den siegreichen Fetisch der Reaktion, das Hakenkreuz, in Prozessionen auch in die Quartiere der Arbeiter, wo unsere Literatur nicht eingedrungen war oder zurückgewiesen wurde, weil sie in allem Elend nicht genug hoffenden Aufschwung gab.
Heute müssen wir deshalb, verspätete Rutengänger, die Quellen suchen, die der vernachlässigten und doch unumgänglichen Volksfront die Lebenskräfte zuführen. Und schwer fällt es den revolutionären Schriftstellern, hier mitzuhelfen, da sie ein ganz neues Gebiet betreten und lernen müssen, wo der Proletarier beginnt, wo der Kleinbürger aufhört.
Bei den antiklerikalen Schriftstellern geschah ähnliches Unglück. Das genial einfache Wort von Lenin: Religion ist Opium für das Volk, wurde für sie selbst zum Opiat. Sie verstanden nicht zu nuancieren, sie nahmen es als Schlagwort, das alle Knoten durchschlug, sie nützten nur ihrem eigenen Sicherheitsgefühl und hatten nichts getan, um die religiöse Problematik wirklich zu entlarven; sie hatten nichts erreicht, aber die Gefühle christlicher Leidensbrüder verletzt und sie von den Fronten verjagt, denen sie sich nähern wollten.
Heute haben unsere Freunde es erkannt; fügen wir aber gleich hinzu, dass sie ins gefährliche Gegenteil fallen und – ein Beispiel – die Märtyrerrolle der katholischen Kirche in Hitlerdeutschland in falscher Taktik übertrieben darstellen.
Warum ich auf diesen Dingen bestehe, die dem Ressort der politischen Propaganda anzugehören scheinen und nicht dem der Dichtung ? Freunde, man kann nicht mehr trennen. Die Zeit ist da, wo das Wort wieder gilt: wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Es war nie anders, doch wird es in bestimmten Epochen deutlicher. Und in Erinnerung an die Fehler, die wir begingen, schnürt uns die Angst, dass wir noch nicht genügend von diesen Fehlern gesprochen haben. Wir hören die Schreie derer, die sterben mussten, und wir weigern uns nicht, unser Teil von Verantwortung an ihren Leiden zu tragen. Greller aber noch ist in unseren Ohren der Schrei derer, die sterben müssten, nähmen wir nicht alle Kräfte zusammen, prüften wir nicht mit aller Leidenschaft unser Wort, riefen wir nicht Tag für Tag in die Zeit hinein, was nottut und was bevorsteht. Zusammen werden wir diese Sprache finden, und niemand soll uns mit falscher Disziplin abhalten, mit allen denen darüber zu sprechen und zu streiten, die guten Willens sind bei vielen Unterschieden der Denkart und der geistigen Herkunft. Wir tun es mit umso größerem Eifer, weil wir wissen, was bedroht ist, weil wir auf diesem Kongress lebendige Beispiele sind für die Gefahren, die von den Feinden der Kultur und des arbeitenden Volkes allen drohen, weil wir mit Schmerz erleben, wie in zwei Jahren in dem Land, aus dem wir kamen, die Kultur erniedrigt, verfälscht und zerstört wird.
Ich muss dabei einen Augenblick verweilen. Mr. Ould, der Sekretär des PEN-Klubs, hat heute morgen in einer Organisationssitzung vorgeschlagen, man möchte den Namen unserer Organisation „für die Verteidigung der Kultur“ ändern, da die Nationalsozialisten behaupten könnten, sie hätten ebenfalls eine Kultur zu verteidigen. Dankbar für diesen Hinweis, glaube ich diesem Kongress und seiner so lebendigen Zuhörerschaft einige Beispiel der Nazikultur vorlegen zu dürfen. Ich spreche nicht davon, ob es Kultur ist, dass man den jüdischen Schulkindern die Gasmaske verweigert. Ich spreche auch nicht davon, dass man den Frauen heimlich in ihren Ministerien erschossener Staatsbeamter tagelang keine Nachricht zukommen lässt, um dann einen Überraschungserfolg zu erzielen, indem der Briefträger plötzlich vor der ahnungslosen Witwe steht und ihr die Asche des ohne Urteil erschossenen, gegen seine religiösen Auffassungen eingeäscherten Gatten in die Hand drückt. Ich spreche nicht von jener Atmosphäre von Misstrauen, Denunziation, Unritterlichkeit, die aus einem Land der lebhaften Kritik, der geistigen Auseinandersetzung das Land eines Streicher gemacht hat. Ich will mit jederzeit nachzukontrollierendem Wort unsere schmerzliche Anklage unterbauen. Hören Sie den nationalsozialistischen Gelehrten Werner von Borstel, der das Recht aller Deutschen auf Prügel dokumentiert, und sich auf den Vater Friedrichs des Zweiten beruft, der seine Untertanen ebenfalls körperlich gezüchtigt habe. Dies, meint der Gelehrte, sei zwar nicht Sozialismus, doch nähere es sich dem Nationalsozialismus, da der König immerhin so demokratisch gewesen, auch seinen Sohn mit dem Degen zu malträtieren und ihn gar vors Kriegsgericht zu stellen.
Hören Sie, was im Zeitalter der Giftgase vom deutschen Lehrer verlangt wird; keine erhöhte Alarmbereitschaft zum Schutz der Menschlichkeit, keine Aufklärung über die Schrecken des Krieges, keine Analyse der Geschichte:
„Der deutsche Lehrer muss sich an erster Stelle – als Soldat fühlen.“ Und es verwundert auch Sie wohl nicht mehr, wenn Sie hören, mit welchem Satz ein Professor der Kunstgeschichte (!) an der technischen Hochschule Berlin sein Kolleg begann: „Meine Herren, sie sind keine guten Deutschen, wenn Sie eine Kathedrale nicht in erster Linie als guten Beobachtungsstand für unsere Artillerie ansehen.“
Nazikultur. Sie bekämpfen heißt die Kultur verteidigen. Wir haben begonnen. Vor einigen Tagen gingen dreitausend Exemplare einer Anthologie auf illegalen Wegen nach Deutschland. Sie enthält Teile aus den Werken von dreiundvierzig Schriftstellern, die in der Emigration weiter arbeiten und nie aufhören werden zu arbeiten. Die deutsche Delegation hat mich beauftragt, je ein Exemplar dieser Anthologie hier unseren großen Freunden André Gide und Henri Barbusse zu überreichen, und ich darf mit dieser Geste unser Gelöbnis erneuern, gegen die Feinde der Kultur und des Friedens den Kampf bis zum Ende unerbittlich weiterzuführen.
Wir sind sicher, dass in diesem Saal auch jenes Gespenst der deutschen Gestapo hockt, das uns folgt wie ein zäher Schatten. Wir erklären ihm vor Ihnen allen: Blockiert Eure Grenzen, unsere Literatur wird die Blockade doch durchbrechen! Zieht Euer Netz so dicht Ihr wollt, wir zerreißen es immer wieder! Und wir grüßen mit Stolz jene unsichtbaren Soldaten der heimlichen Schlacht, die an den Grenzen unsere Pakete erwarten und unser Wort weiter verbreiten im unterdrückten Vaterland.
Nichts kann unsere Haltung ändern gegen die Tyrannen. Ihr habt Mühsam töten können. Ihr haltet Renn und Ossietzky in Euren Klauen.
Aber nie werdet Ihr unsere Stimme ersticken; nie werdet Ihr unsere Liebe zum arbeitenden Volk auslöschen noch die schmerzhafte Flamme unsere Leidenschaft für die Wahrheit!

 

Boris Pasternak

Dichtung wird immer in einer alle Gebirge überragenden, herrlichen Höhe zu Hause sein. Sie breitet sich zu unseren Füßen im Grase aus, so dass man sich nur herabzubeugen braucht, um sie zu erblicken und von der Erde aufzuheben. Sie wird immer einfacher sein, als dass man sie in Versammlungen abhandeln könnte. Sie wird immer organische Funktion des Glücksgefühls des Menschen bleiben, der die gesegnete Gabe vernunftvoller Rede besitzt. Und so wird es, je mehr Glück auf der Erde sein wird, desto leichter werden, Künstler zu sein.

So fängt man an. Mit zwei Jahren geht’s fort,
Weg von der Mutter ins Dunkel, dorthin,
Wo Melodien sind, man stammelt und pfeift –
Doch erst im dritten Jahr kommt es, das Wort.

Man beginnt zu begreifen. Im Lärm der Turbine
Wills einem dann scheinen, als wäre
Die Mutter nicht Mutter und Du gar nicht Du,
Und das Haus ist die Fremde, die Leere.

Was mit der Schönheit, der furchtbaren tun,
Die auf der Fliederbank sitzt? Soll man gehen,
Um Kinder zu stehlen? Aber wozu?
So ist’s wenn die Zweifel entstehen.

So reifen die Ängste. Wie gibt er dem Stern
Höhe über dem Boden? Und wann
Ist Faust er, wann ein Phantast?
Zigeuner fangen so an.

So eröffnen sich dampfend und weit
Hinter den Flechtzäunen, gleich einem Seufzen,
– wo Häuser sein müssten – Meere der Zeit.
So wird man die ersten Jamben begreifen.

So falln in den Hafer kopfüber zurück
Die Sommernächte und flüstern: Erfüll dich!
Und drohen dem Morgenrot mit deinem Blick.
So fängt man an mit der Sonne zu streiten.

Und so beginnt man zu leben im Vers.

(Nachdichtung: Heinz Czechowski)

 

Der Abdruck der Rede Heinrich Manns erfolgt mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main. Die Rede von Magdeleine Paz wird hier erstmals in deutscher Fassung veröffentlicht. Die Übersetzung nahm Wolfgang Klein vor. Trotz intensiver Bemühungen gelang es uns nicht, die Inhaber der Autorenrechte von Magdeleine Paz ausfindig zu machen. Für Hinweise dazu ist die Redaktion dankbar. Die Übernahme der Rede von Gustav Regler erfolgt mit Genehmigung der Leiterin des Gustav-Regler-Archivs Merzig, Annemay Regler-Repplinger, und des Stroemfeld-Verlages Frankfurt am Main. Die Rede von Boris Pasternak ist dem Band „Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ (Akademie-Verlag, Berlin 1982) entnommen. Die Rede selbst wurde für diesen Band von Eva Plietzsch übersetzt; die Nachdichtung schuf Heinz Czechowski für die Ausgabe des Akademie-Verlages, die seinerzeit auch unser Autor Wolfgang Klein betreute. Dankenswerterweise billigte der Akademie-Verlag die Weiterverwendung der bei ihm erschienenen Ausgabe bereits für die von Klein gemeinsam mit Sandra Teroni herausgegebene französische Edition der Kongressmaterialien („Pour la défense de la culture. Les textes du Congrès international des écrivains, Paris, juin 1935“, réunis et présentés par Sandra Teroni et Wolfgang Klein, Éditions universitaires de Dijon, Dijon 2005).
Die Auswahl der Kongress-Beiträge erfolgte durch Wolfgang Klein. Wir danken allen Rechteinhabern für die uns erteilten Genehmigungen. Sollten wir unwissentlich die Rechte anderer verletzt haben, so bitten wir diese, sich freundlicherweise mit uns in Verbindung zu setzen.

Wolfgang Brauer