von Dieter B. Herrmann
Bei der Umschaltung auf die diesjährige Sommerzeit (MESZ) in der Nacht vom 28. auf den 29. März haben wir alle eine Stunde verloren, die wir aber zurück erhalten, wenn am 25. Oktober die „Normalzeit“, die sog. Mitteleuropäische Zeit (MEZ) wieder eingeführt wird.
Anders ist es mit einer Sekunde, die wir tatsächlich „geschenkt“ bekamen – allerdings eben nur eine Sekunde. In der Nacht des 30. Juni 2015 sind von 23 Uhr 59 Minuten 59 Sekunden bis Mitternacht zwei statt einer Sekunde vergangen. Der Sekundenzeiger blieb gleichsam für eine Sekunde stehen! Vermutlich hat das kaum jemand bemerkt. Doch gerade deshalb fragt sich mancher Normalbürger: Was soll der Quatsch? Doch der vermeintliche Unsinn ist genau genommen nicht unsinniger als die gregorianische Kalenderreform von 1582, nur bedeutend kleinteiliger.
Damals hatte man einen Fehler im Kalender korrigiert, der lange Zeit für nicht weiter beachtenswert gehalten worden war. Im Jahre 46 v.Chr. war nämlich unter Kaiser Julius Cäsar der sogenannte Julianische Kalender eingeführt worden. Er beruhte auf einer Jahreslänge von 365,25 Tagen und sah in jedem vierten Jahr einen zusätzlichen Schalttag vor, um die Übereinstimmung zwischen Kalender und Himmelsanblick aufrecht zu erhalten. Experten wussten damals schon, dass die tatsächliche Länge des Jahres – eines Umlaufes der Sonne um die Erde, wie man seinerzeit meinte – etwas kürzer ist. Doch der Unterschied war zum einen nicht genau genug bekannt, zum anderen schien er vernachlässigbar. Heute wissen wir: Die tatsächliche Dauer eines Umlaufes der Erde um die Sonne dauert 365,2422 Tage. Das führt zu einer Differenz von Kalender und tatsächlichem Himmelsanblick von 11 Minuten pro Jahr. Doch was bedeuteten schon 11 Minuten in der damals für unsere heutigen Begriffe entschleunigten Zeit?
In jeweils 128 Jahren summieren sich diese jährlichen 11 Minuten allerdings zu einem ganzen Tag. Je weiter die Zeit voranschritt, um so größer wurde die Differenz. Besonders der Katholischen Kirche war dies schon länger ein Dorn im Auge, weil sie nämlich das Osterdatum nicht mehr verlässlich ermitteln konnte. Dieses höchste christliche Fest wird stets am ersten Sonntag nach dem erste Vollmond nach dem Frühlingsanfang begangen. Dazu muss man wissen, wann die Sonne auf ihrer scheinbaren Bahn den Himmelsäquator von Süd nach Nord überschreitet, das heißt, wann der astronomische Frühling beginnt. Genau darin besteht nun aber das Problem des Kalenders: Er koppelt ein Datum an einen bestimmten Himmelsanblick. Und wenn der Kalender „aus dem Ruder“ gelaufen ist, stimmen beide nicht mehr überein. Aus diesem Grunde nun kam es 1582 zu der von Papst Gregor initiierten Kalenderreform. Schon 1512-1517 hatte man sich vorgenommen, auf dem Lateranischen Konzil in Rom den Kalender zu reformieren. Sogar Copernicus war eingeladen und um seinen Rat gefragt worden. Doch er hielt den Zeitpunkt für verfrüht, da die astronomische Jahreslänge noch nicht genau genug bekannt sei. Nun endlich wähnte man sich sicher und korrigierte den Kalender in drastischer Weise. Die Differenz zwischen Himmelsanblick und Kalenderdaten belief sich inzwischen auf 9,8 Tage seit dem „Konzil von Nicäa“, auf dem Kaiser Konstantin im Jahre 325 das Christentum zur Staatsreligion erklärt hatte. Also ließ man auf den 4. Oktober 1582 sogleich den 15 Oktober folgen – das kürzeste Jahr der Geschichte!
Natürlich musste auch die Schaltregel verändert werden – alle vier Jahre ein Schaltjahr, das hätte zwangsläufig wieder in jeweils 128 Jahren zu einem Tag Differenz geführt. Die neue Schaltregel lautete: In 400 Jahren gibt es nicht mehr 100 Schaltjahre, sondern nur noch 97! So war etwa das Jahr 1900 kein Schaltjahr und das Jahr 2100 wird wieder keines sein.
Die Zeiten von Papst Gregor liegen lange zurück und trotz eines einheitlichen Kalendersystems waren inzwischen ganz neue Probleme herangereift. Unsere Zeitmessgeräte sind immer genauer geworden und die Entwicklung des Verkehrswesens erforderte dringend ein einheitliches Zeitsystem. Jeder Ort mit seiner eigenen Zeit, wie früher durchaus üblich, das war jetzt nicht mehr brauchbar. Besonders die rasche Entwicklung der Eisenbahnen ab 1825 forcierte eine Reform des Zeitwesens. Großbritannien, damals das am weitesten entwickelte kapitalistische Land, machte den Anfang mit der Einführung einer „Railway Time“ und – was wunder – es war die Ortszeit von Greenwich, wo sich seit 1675 die Königliche Sternwarte befand. Dank der Erfindung der Telegrafie – zunächst per Kabel, dann auch drahtlos – konnten die Zeitsignale überall zur Verfügung gestellt werden, wo man ihrer bedurfte. Die zunehmenden Verflechtungen der verschiedenen Staaten durch den sich ausbreitenden Welthandel führten schließlich dazu, dass diese „Greenwich Mean Time“ die Basis des internationalen Zeitzonensystems wurde. Auch bei geographischen Längenangaben bezog man sich fortan auf einen Null-Meridian, der durch die Sternwarte von Greenwich verläuft.
Doch diese Greenwicher „Universal Time“ wird aus der Erdrotation durch astronomische Beobachtungen abgeleitet. Und siehe da: Unser guter alter Wandelstern liefert uns gar keine wirklich streng gleichmäßige Zeitskala. Die Polhöhe der Erde schwankt und die Erdrotation selbst ist auch nicht streng gleichmäßig, sondern variiert, während sie sich gleichzeitig über große Zeitskalen verlangsamt. Das alles ist sowohl durch astronomische Beobachtungen, vor allem aber durch Uhren ans Tageslicht gekommen, die präziser laufen als unsere Erde. Deshalb hat man korrigierte Zeiten eingeführt, wie zum Beispiel die Universal Time 1 (UT1), bei der die Polhöhenschwankungen berücksichtigt sind. Eine weitere Korrektur liefert dann UT2, bei der auch die Verlangsamung der Erdrotation und die wichtigsten sonstigen bekannten Schwankungen einbezogen werden. Die Korrektur liegt im zweistelligen Millisekundenbereich. UT2 ist nun das Maximum, was sich aus der Erdrotation herausholen lässt. Praktisch benutzt wird in der Astronomie aber trotzdem UT1, obwohl die daraus abgeleitete Sekunde (ursprünglich der 86.400ste Teil eines Sonnentages) nicht immer exakt gleich lang ist. Deshalb hat man sich auch von der alten Sekundendefinition verabschiedet und die immer streng gleichlange Atomsekunde (IS-Sekunde) eingeführt. Die darauf basierende Zeitskala ist die koordinierte Universaltime (UTC), die uns allen über die Zeitzeichen des Rundfunks vermittelt wird.
Und jetzt kommt die Sekunde, die uns in der Nacht zum 31. Juni „geschenkt“ wurde: Ließe man die UTC einfach laufen, hätte man zwar eine streng gleichmäßige Zeitskala, die aber nicht mehr an der tatsächlichen Erdrotation orientiert ist. Deshalb wurde festgelegt, dass die Differenz UTC-UT1 niemals größer als 0,9 Sekunden werden sollte. Da wir die Erdrotation glücklicherweise nicht manipulieren können, ist diese Bedingung nur erfüllbar, indem wir gelegentlich eine Schaltsekunde einfügen oder auslassen. Gegenwärtig geschieht das rund dreimal in zwei Jahren.
Ist also alles in bester Ordnung mit unserem Zeitsystem? Nichts ist so gut, dass es nicht auch Gegner hätte. Kritiker der Schaltsekunden-Regelung befürchten, dass die mehr oder weniger regelmäßigen Eingriffe Risiken für unsere Informationstechnik-Systeme mit sich bringen könnten. Bei der letzten Schaltung gab es zum Beispiel Probleme mit dem Buchungssystem der australischen Airline Qantas, aber auch bei zahlreichen größeren Websites. Einige Informatiker (etwa bei Google) sind bereits auf die Idee gekommen, die Uhren ihrer Computer zeitweise minimal zu verlangsamen, um Probleme auszuschließen. Ganze Staaten plädieren inzwischen auf internationalen Konferenzen für die Abschaffung der Schaltsekunden, darunter die USA und Frankreich. Russland, China, Großbritannien und Kanada hingegen setzen sich vehement für die Beibehaltung ein.
Argumente gibt es in beiden Lagern: Würde man auf die Schaltungen verzichten, hätten die Astronomen weltweit Probleme mit einer Zeit, die nicht mehr an die Erdrotation gebunden ist. Grundsätzlich könnte man natürlich auch warten, bis sich größere Differenzen zwischen UTC und UT1 angehäuft haben und dann ganze Minuten oder Stunden schalten. Da solche Schaltungen aber erst nach mindestens etwa hundert Jahren anfallen würden, könnten die Risiken dann noch viel größer sein. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Definition der SI-Sekunde zu ändern. Doch das brächte die Physik durcheinander, denn man müsste etliche wohldefinierte Konstanten verändern. So bleibt abzuwarten, wie sich die zuständige International Telecommunications Union (ITU) auf ihrer nächsten Tagung in Genf im Herbst dieses Jahres entscheiden wird. Da es aber eines einstimmigen Beschlusses bedarf, um das bisherige System aufzugeben, kann man wohl ohne großes Risiko orakeln: Alles bleibt, wie es ist. Wann aber die nächste Schaltsekunde kommen wird, kann jetzt noch nicht gesagt werden, weil die unberechenbaren Schwankungen der Erdrotation keine Planungssicherheit zulassen.
Schlagwörter: Dieter B. Herrmann, Erdrotation, Kalender, Schaltsekunde, Zeit