von Reinhard Wengierek
Die Ticketkasse klingelt ununterbrochen, und die Schlange der Reisebusse allabendlich vor der Tür wird immer länger. Wenn das so weiter geht, ist die Knete bald wieder drin im Sack. Hat doch der Berliner Friedrichstadtpalast mehr als zehn Millionen Euro investiert in seine neue Showproduktion „The Wyld“, die damit zur sage und schreibe teuersten außerhalb von Las Vegas avanciert. Seit der Premiere im vergangenen Spätherbst gilt: „The Wyld“ ist ein Kracher im Kartenverkauf. Doch mit einer perfekt geölten und europaweit ausgreifenden Marketingmaschine allein läuft das natürlich nicht. Ohne Qualität im Ausschank bleibt jede Bude leer. Also testete ich kürzlich mal eine Vorstellung inmitten der Woche. Der vor drei Jahrzehnten aufwändig errichtete DDR-Bau (nichts erinnert hier an die vielerorts üblich öde Großhallen-Konfektionsästhetik) ist fast randvoll und neuerdings geschickt illuminiert, was seine bislang gern und dumm als „ostig“ geschmähte, dabei elegante Opernpompös-Architektur fein ausstellt. Um mich herum Gewusel aller Altersklassen und babylonisches Geplapper, darunter sogar auf Deutsch.
Der Anfang des immerhin als bombastisch annoncierten Spektakels war erstaunlicherweise betont leise, lässig, intim. Ich kapiere: kleine Ouvertüre als Kontrast zum Großen, es soll schließlich noch laut, spannend, rasend werden, eben bombastisch. Zu Beginn also auf der Vorbühne erst mal die alltägliche Ballettprobe an der Stange. Klassisches Exercise mit zarter Klavierbegleitung und – hahaha! spaßige Beigabe – einem zickig-tuntigem Ballettmeister, der die Truppe in dicken Strickstrümpfen und ausgeleierten T-Shirts scheucht und mit Worten lustvoll in den Hintern tritt. „Eins und zwei und drei und vier…“ So und mit einigen Blödeleien, Sprüngen, Pirouetten geht das ein paar Minuten lang. Bis der Meister Schluss macht und sein Urteil fällt: „Nicht schlecht, aber auch nicht gut.“ – Ein kecker Satz, den sich die Regie da hat einfallen lassen für den Auftakt der bislang alle Verkaufsrekorde brechenden Show, die noch bis Mitte nächsten Jahres en suite und möglichst immer ausverkauft laufen muss. „Nicht schlecht“ wäre da sehr viel zu wenig – ist aber ironisch gemeint. Was jedem sofort klar wird, wenn nach irrem Wechsel sowohl der Beleuchtung (die Augen geblendet) als auch der Beschallung (das Trommelfell erschrocken) das nunmehr enorm aufreizend kostümierte Ballett aufmarschiert; perfekt trainiert und dressiert.
Berndt Schmidt aus Schwabenland, akademisch gebildeter, promovierter und ruhmreicher Chef von Europas größtem Revuetheater, das er seit 2008 von dilettantischer Programmgestaltung befreite und so aus dem Versinken in tiefrote Zahlen errettete, was wiederum blind behördlicher Abwicklungslust allen Wind aus den Segeln nahm, Doktor Schmidt hat also, wie gesagt, für „The Wyld“ sehr viel Geld zusammengekratzt. Das höchste Budget, das je in der nun schon 95-jährigen Geschichte dieses Instituts für eine Produktion verbraten wurde. Also Klotzen statt Kleckern; und ich darf ungeniert bewundernd sagen: Es hat geklappt. Der Mut zum Klotzen hat sich sowohl in künstlerischer als auch (zumindest bis jetzt) wirtschaftlicher Hinsicht ausgezahlt – trotz des nach meinem Geschmack etwas kryptisch im Ohr klingenden Titels. Doch hab‘ ich mir auch ohne den naseweisen Hinweis im Hochglanz-Programmheft zusammen gereimt, dass mit dem umständlichen „Wyld“ das englische „the wild“ gemeint ist, was „Wildnis“ heißt. Ich darf hinzufügen, die Regie meint mit „The Wyld“ wohl auch das Noch-nie-Dagewesene, Exotische, Sagenhafte. Und der transzendente Untertitel „Nicht von dieser Welt“ spricht dann ja auch neugierig machend Klartext. – Man hat nicht zu viel versprochen…
Da wird also die frisch aufgetakelte Soundmaschinerie hochgefahren, „eine der leistungsfähigsten Indoor-Anlagen Europas“ (Ansage der Pressestelle). Da werden die 1.300 Scheinwerfer und 530 LED-Strahler angeworfen, da trollt sich das weltweit größte (festangestellte!) Revueballett, seit jeher Superstar des Hauses und globale Einzigartigkeit, in wirklich verwegener Choreographie und Ausstattung auf der Spiegelfläche der ein halbes Fußballfeld einnehmenden Bühne. Da muss man weit herumkutschieren, um so was zu sehen. Der Palast hat‘s!
Und überhaupt, das ist das Sensationelle auch dieser Show: Dass mit einem alle Tanz- und Musikstile perfekt beherrschenden, so fantastisch wie originell ausgestatteten Ballett und gestützt auf einen sagenhaft hochgezüchteten technischen Apparat (der Kostenfresser!), dass mit all dem sowie mit originärer künstlerischer Fantasie wirklich unvergessliche Wirkungen erzielt werden. Wie sich hier Raum, Farbe, Licht, Musik, Menschen und alles in kontrastreicher Bewegung zu immer neuen Bildern, ja schier atemberaubenden Gesamtkunstwerken formieren – das muss man erlebt haben. Da ist dieser einzigartige Unterhaltungsbetrieb ganz bei sich, ganz auf der Höhe der Zeit. Da triumphiert – etwa in der atemberaubend inszenierten Nummer „Le Kick c’est chic“ mit der Großen Girl-Reihe – ästhetische Vollkommenheit. Das reine Glück des Schönen. Umwerfend! Ganz gleich, ob das nun unter „Wyld“ oder „Wild“ oder wie auch immer firmiert.
Man darf es getrost in alle Himmelsrichtungen posaunen: Das internationale Team Manfred Thierry Mugler und Roland Welke (Regie), Jürgen Schmidt-André (Bühnenbild), Mugler und Stefan Canulli (Kostüm), Alain Lonchampt (Licht), Marc Vidal (Video) sowie die Großkollektive der Choreographen und Komponisten kreierten in ihren stärksten, das Fantastische so verwegen mit dem Zeitgeistigen verquickenden Nummern vollendete Show-Szenen.
Doch Mugler und Welke ertüftelten auch noch ein „Konzept“. Im Programmheft ist die Rede von nichts weniger als vom Berlin-Gefühl des 21. Jahrhunderts. Vom Großstadt-Dschungel, von durch die subkulturelle Berghain-Club-Gegend streunenden Nachtgestalten, von den einst sonderlich in Berlin gleißenden so genannten Golden Twenties, von herumgeisternden Aliens, von Nofretete, einer Berlinerin, die im Ägyptischen Museum Fahrrad fährt und dort (wilde oder wylde?) Party macht. Und dann ist da noch die Rede von der Liebe eines Radfahrer-Akrobaten auf dem Alexanderplatz zu einer auf der Fernsehturmkugel hausenden Schönheit. Das rein Show-Ästhetische soll, so das Konzept, noch eingewickelt werden in eine volkstümlich gemeinte Berlin-Revue. Und bei all dem tümelte und stotterte es leider mächtig. So war das noch zur Premiere. Doch jetzt ist Schluss damit. Alles Verkrampfte, Verrenkte, Verkopfte ist gestrichen oder auf eine signifikante Andeutung komprimiert. Nichts mehr tümelt, nichts mehr stottert, nichts verläppert und verwurschtelt sich im Kleinkarierten. Man hat gelernt, geändert, verdichtet, verfeinert.
Und siehe, die Modenschau-Posen auf der Treppe, das bisschen affektierte Teenager-Liebelei, die Nixen unter Wasser in Glasballons, der Nofretete-Exotismus, der Sound und die jetzt wuchtig ohrwürmigen Gesangsnummern, der BMX-Solist Balazs Földvary, die „wylden“ Choreographien nebst einer monströsen Transgender-Figur, die atemberaubende Artistik der vier Muskelmänner des ukrainischen Äquilibristik Quartetts „White-Gothic“ sowie des russischen Luft-Perche-Duos „Markov“ – alles mischt sich in eine wundersame Folge kompakter und wirkungsmächtiger Breitwandbilder. Durchweht von einem Hauch Präteritum, Science Fiction, Altertum, 1920er-Jahre-Moderne und Berliner Luft von heute. Auffällig dabei das meisterliche Beherrschen der hohen Kunst der Übergänge durch die Regie, also die Verkettung der Kontraste von Action und Stille, Grellem und Dunklem, krachend Lustigem und entrückt Erhabenem oder fein Melancholischem – die Effekte sind überwältigend; denn Show ist ja immer Überwältigungskunst! Auch stimmen Timing und Styling in jedem Detail, in jedem Moment. Zwei begeisternde, des Staunens volle Stunden lang (es gab standing ovations).
Nur schade, dass die Pause viel zu kurz war. Das Publikum verlangt nach mehr Muse fürs Flanieren und Selfie-Machen, fürs Plaudern bei Häppchen und Gläschen. – Ach ja, die zur Premiere so umstrittene, als provinziell arg gebrandmarkte Dressur-Nummer pittoresk frisierter Pudel wurde vom international durchsetzten Publikum nunmehr herzlichst gefeiert. Man roch die Prise Zirkus, genoss die Hingabe ans Kind in uns allen. Gut gebellt, wahnsinnig gut gebellt, Friedrichstadtpalast.
Er tut es, nach kurzer Erholung, wieder im August. Deshalb mein super heißer, total familientauglicher Tipp für Einheimische wie Fernreisende für den Rest der schönen Ferienzeit und für überhaupt: Flink buchen und nix wie hin zur Friedrichstraße 107. Denn det hat nur Berlin; man muss es erlebt haben.
Schlagwörter: Friedrichstadtpalast, Reinhard Wengierek, The Wyld