von Hubert Thielicke
Am 31. August 1990 schlossen die BRD und die DDR den Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag); kurz darauf folgte der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag). Einige Tage später war der zweite deutsche Staat Geschichte – und mit ihm auch seine Außenpolitik, deren Bedeutung seither meist heruntergespielt wird. Vor allem ehemalige Diplomaten haben indes durch Memoiren, Analysen und andere Veröffentlichungen die außenpolitischen Aktivitäten der DDR beleuchtet.
Seinen Beitrag hat nun auch Gunter Görner vorgelegt. Er war von 1963 bis 1990 im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) tätig. Als Abteilungsleiter in der Haupteilung Rechts- und Vertragswesen sowie als Teilnehmer bi- und multilateraler Verhandlungen trug er zur Ausgestaltung völkerrechtlicher Positionen und zum Zustandekommen entsprechender Verträge bei. Sein Buch ist keine klassische Autobiografie, vielmehr stellt Görner die Sachfragen, mit denen er beschäftigt war, in den Vordergrund. Dabei geht er weit über sein Anliegen hinaus, „die Position der DDR in den Verhandlungen über wichtige völkerrechtliche Vereinbarungen möglichst umfassend und nachvollziehbar zu erläutern“. Er informiert über Zusammenhänge, Inhalte und über teilweise noch wenig bekannte Fakten. Das betrifft auch Vorgänge in der DDR selbst. Unter anderem berichtet Görner über das gespannte Verhältnis zwischen Ministerpräsident Willi Stoph und Außenminister Oskar Fischer, das vor allem darin begründet war, dass Fischer außenpolitische Entscheidungen direkt von Erich Honecker einholte, so dass Stoph erst nachträglich davon erfuhr.
Das Interesse des Autors am Völkerrecht wurde einst durch Michael Kohl geweckt, dessen Vorlesungen er während seines Jurastudiums an der Universität Jena hörte. Im MfAA arbeitete Görner viele Jahre eng mit Kohl zusammen, der als Abteilungsleiter, Staatssekretär, Unterhändler und schließlich als erster Ständiger Vertreter der DDR in Bonn eine wichtige Rolle in den deutsch-deutschen Beziehungen spielte. Außer dem Autor gibt es keinen weiteren Zeitzeugen, der an allen diesen Aktivitäten beteiligt war – von den Passierscheingesprächen mit dem Westberliner Senat in den 60er-Jahren über die Treffen von Erfurt und Kassel sowie den Grundlagenvertrag 1972 bis zum Einigungsvertrag 1990. Von großem historischem Interesse sind die Auseinandersetzungen über den Status Berlins oder um die Überwindung der Hallstein-Doktrin, mit der die Bundesrepublik die internationale Anerkennung der DDR zu verhindern suchte.
Nach der Aufnahme der DDR in die UNO 1973 wirkte der Autor im Rechtsausschuss der UN-Generalversammlung; 1984 war er dessen Vorsitzender. Aus erster Hand berichtet Görner über das Zustandekommen solcher völkerrechtlicher Regelungen wie der Aggressionsdefinition und des Kodex für Verbrechen gegen den Frieden, aber auch über die Weiterentwicklung der Vertragswerke zur Antarktis und zum Weltraum. Den Schwerpunkt bilden jedoch die Verhandlungen der 3. Seerechtskonferenz sowie in der Vorbereitungskommission für die Internationale Meeresbodenbehörde und den Internationalen Seegerichtshof. Görner selbst spielte von 1973 bis 1990 eine wichtige Rolle beim Zustandekommen des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) und seiner Nachfolgevereinbarungen.
Das Gremium war die bis dahin größte UN-Konferenz zur Kodifizierung des Völkerrechts. Das SRÜ, auch als „Verfassung der Weltmeere“ bezeichnet, stellte nach Meinung des damaligen UN-Generalsekretärs Javier Perez de Cuellar nach der Charta das bedeutsamste völkerrechtliche Übereinkommen des 20. Jahrhunderts dar. Eingehend analysiert der Autor solche Probleme wie Küstenmeer, Meerengen, Archipelstaaten, ausschließliche Wirtschaftszone, Festlandsockel, Hohe See oder Schutz der Meeresumwelt. Angesichts der Auseinandersetzungen um Inseln im Süd- und im Ostchinesischen Meer oder über Bodenschätze und Durchfahrtsrechte in der Arktis sind diese Fragen bis heute höchst aktuell.
In diesen Verhandlungen wurden die Positionen der Staaten nicht wie sonst meist üblich vom Ost-West-Konflikt, sondern recht pragmatisch vor allem davon bestimmt, ob sie als Langküstenstaaten von der Umverteilung der Meeresreichtümer profitieren oder als Staaten mit kurzer Küstenlinie nur kleine Wirtschaftszonen und geringe Festlandsockelanteile beanspruchen konnten. So unterschieden sich mitunter die Interessen der DDR und Polens als geografisch benachteiligte Staaten sowie der Tschechoslowakei und Ungarns als Binnenstaaten von denen der Sowjetunion als Langküstenstaat. Auch die Gruppe der westlichen Industriestaaten trat wegen der geografischen Lage ihrer Mitglieder nicht einheitlich auf. So nimmt es nicht Wunder, dass das SRÜ erst nach acht Jahren zäher Verhandlungen zustande kam. Dabei bestanden oft ähnliche Interessenlagen zwischen DDR und BRD, deren Delegationen konstruktiv zusammenarbeiteten.
Als Vorsitzender der Sonderkommission zur Errichtung des Internationalen Seegerichtshofs trug Görner maßgeblich Verantwortung für die Ausarbeitung praktischer Regelungen für dieses internationale Gericht, das heute seinen Sitz in Hamburg hat. Seine umfangreichen Erfahrungen brachten es mit sich, dass der Autor bis zum Abschluss der Arbeit der Vorbereitungskommission im Jahr 1994 als Sonderberater der deutschen Delegation an den Verhandlungen teilnahm.
Die Beschäftigung mit dem Seevölkerrecht führte Görner auch in literarische Gefilde. Als engagierte Meeresschützerin nahm Elisabeth Mann Borgese als eine von wenigen Frauen an der Seerechtskonferenz teil. Bereits Ende der 60er-Jahre hatte sie mit dem maltesischen Diplomaten und Völkerrechtsexperten Arvid Pardo erste Vorschläge für eine Seerechtsverfassung erarbeitet. Als „Botschafterin der Meere“ war sie in den 80er Jahren auch mehrmals in der DDR, um für die Mitgliedschaft im SRÜ zu werben. Nach solchen Konsultationen begleitete sie Görner auf den Spuren ihrer Eltern und Heinrich Manns, ihres Onkels, durch verschiedene Städte. Durch sie lernte er ihren Bruder, den Historiker Golo Mann, kennen.
Unterhaltsam auch so manche Episode. So stieß der Autor bei Verhandlungen im britischen Foreign Office auf die Sparsamkeit des britischen Staatsdienstes. Bleistifte trugen die Aufschrift „Her Majestyʼs Property“ und zum Fünf-Uhr-Tee wurden winzige Kekse gereicht, die zudem abgezählt waren und von denen jedem Teilnehmer nur einer zustand.
Exemplarisch veranschaulicht das lesenswerte Buch die konstruktive Rolle, die Vertreter der DDR in Verhandlungen des UN-Systems spielten. So verweist Görner nicht zuletzt darauf, „dass die DDR zu allen wesentlichen Kodifikationsprojekten der Vereinten Nationen konstruktive Beiträge geleistet hat“. Ihre Position sei mit wenigen Ausnahmen mehrheitsfähig gewesen, befand sich also in Übereinstimmung mit der Haltung der großen Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten.
Gunter Görner: Völkerrecht im Kontext seiner Zeit. Aufzeichnungen eines deutschen Diplomaten. Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza/Thüringen 2014, 545 Seiten, 39,95 Euro.
Schlagwörter: DDR, Gunter Görner, Hubert Thielicke, Seerecht, UN-System