von Edgar Benkwitz
Einen wahren Edelstein hatte der Fernsehsender ServusTV kürzlich in seinem Programm. Reinhold Messner, Bergsteigerlegende, Umweltaktivist und Menschenfreund suchte im Himalaya noch einmal die Orte seines frühen Ruhmes auf. In einer dreiteiligen Fernsehserie führte er an die von ihm bestiegenen Achttausender. Dabei hielten sich Erinnerungen in Grenzen, die Bergwelten wurden vor allem mit ihren heutigen Problemen gezeigt. Insbesondere im Karakorum-Gebirge, seit jeher strategischer Knotenpunkt im Streit großer Mächte, gelangen Messners Fernsehteam spektakuläre Aufnahmen. Als erstes überhaupt durfte es den von indischen Truppen kontrollierten Siachen-Gletscher besuchen, wenig später den benachbarten Baltoro-Gletscher, auf dem sich pakistanische Truppen festgesetzt haben. Vor wenigen Jahren fanden hier, in über 6.000 Meter Höhe, erbitterte Kämpfe statt. Streng bewacht besuchte er auch seinen „Schicksalsberg“, den Nanga Parbat, heute Einzugsgebiet der Taliban, die vor zwei Jahren im Basislager dreizehn Bergsteiger ermordeten. Schließlich befuhr er die fertige Teilstrecke des von China mit großem Aufwand gebauten modernen Karakorum- Highways.
In diesem schwer zugänglichen Gebiet stoßen die Interessen von Indien, China und Pakistan aufeinander. Aus der Kolonialzeit stammen ungelöste Territorial- und Grenzfragen, die wiederholt zu kriegerischen Auseinandersetzungen führten. Die Gefahr von militärischen Zusammenstößen scheint heute nicht so aktuell zu sein, gebannt sind sie jedoch nicht, denkt man an die Rüstungsanstrengungen aller drei atomar bewaffneten Staaten.
Mehr und mehr wird in dieser jetzt noch abgelegenen Region China die gestaltende Kraft. Von seinen Westprovinzen aus verschafft es sich über den Karakorum, den Indus entlang, einen Zugang zum Arabischen Meer. Realisiert werden soll ein Wirtschaftskorridor, der neben Schnellstraßen, Eisenbahn und Pipelines auch Industrieanlagen vorsieht. Chinesische Investitionen von 45 Milliarden US-Dollar wurden bisher zugesagt.
Die pakistanische Herrschaftselite ist dafür ein williger Partner, der sich seit jeher vom engen Zusammengehen mit China eine Stärkung seiner Positionen gegenüber Indien verspricht. Doch Chinas Bauvorhaben berühren auch von Indien beanspruchtes Gebiet. Nicht zuletzt die 5.800 Quadratkilometer, die Pakistan bereits 1963 im nördlichen Kaschmir an China abtrat. Doch China geht offensichtlich von der nicht unrealistischen Position aus, dass sich in dem seit 1947 schwelenden Kaschmirkonflikt nichts mehr grundlegend ändern wird. Das würde bedeuten, dass die „line of control“ – die Demarkationslinie –, die das ehemalige Fürstentum Kaschmir seit fast 70 Jahren teilt, früher oder später die Staatsgrenze zwischen Indien und Pakistan sein wird. Zudem wächst auch in Indien der Einfluss realistischer Kräfte, vor allem in Wirtschaftskreisen, die in der gleichen Richtung denken. Ein florierender Wirtschaftskorridor vom Karakorum zum Arabischen Meer würde nicht nur einen kräftigen wirtschaftlichen Impuls auf Pakistan, sondern die ganze Region, von Iran über Afghanistan bis Indien ausüben und könnte positive Auswirkungen auf die fragile Sicherheitslage haben.
Indien hält sich bisher zu all diesen Fragen bedeckt. Natürlich erhält es seinen Anspruch auf den von Pakistan verwalteten Teil Kaschmirs aufrecht, auch hat es vorsorglich gegen den Bau des Karakorum-Highways durch von Indien beanspruchtes Territorium protestiert. Doch sind das nur Details im großen strategischen Spiel zwischen China und Indien. Beruhigend wirkt, dass Indien trotz häufiger Provokationen seitens Pakistans die Lage realistisch betrachtet und nach Ruhe an seinen Grenzen und in seiner Nachbarschaft strebt. Es gilt vor allem, den Terrorismus, der in Pakistan einen günstigen Nährboden hat, fernzuhalten. Hier fallen die Interessen Indiens und Chinas zusammen. Terroristische Anschläge gefährden auch die Realisierung der chinesischen Projekte in Pakistan, sie stellen darüber hinaus Stabilität und Sicherheit in Pakistan überhaupt in Frage. Ganz zu schweigen davon, dass auch China islamistisches Gedankengut von seiner muslimisch geprägten Westprovinz fernhalten will. Kann die indische Diplomatie solche Gemeinsamkeiten nutzen, um Problemfelder mit China, wie das leidige Grenzproblem, abzubauen?
Es sei daran erinnert, dass an der 4.000 Kilometer langen Trennlinie zwischen China und Indien sich seit 1962 – als kriegerische Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten stattfanden – ein Status quo herausgebildet hat. China legte damals einseitig die Grenze in seinem westlichen Gebiet (Aksai Chin), das Indien als zugehörig zu seiner Provinz Ladakh betrachtete, fest. Zugleich zog es seine vorgerückten Truppen aus dem von ihm beanspruchten Gebiet im Nordosten Indiens (der heutige Bundesstaat Arunachal Pradesh) hinter die ursprüngliche Grenzlinie zurück. Mit dieser Situation leben beide Länder nun seit über 50 Jahren. Es hat sich ein effektiver Kontrollmechanismus herausgebildet, der eventuelle Vorkommnisse an der „line of actual control“, der Grenzlinie, bereinigt. Obwohl sich an vielen Stellen indische und chinesische Soldaten gegenüberstehen, ist hier seit über 30 Jahren kein Schuss gefallen. Doch diese eigenartige Grenze ist nicht aktuell vermessen, nicht demarkiert. An vielen Stellen überschneiden sich gegenseitige Gebietsansprüche, da das unvollständige und sich teilweise widersprechende Kartenmaterial schon über 100 Jahre alt ist. Hinzu kommt, dass es sich oft um ödes, schwer zugängliches und teilweise unbewohntes Bergland handelt. China war lange bereit, auf der Grundlage des Status quo die Grenzfrage zu lösen, jedoch hatte Indien Bedenken. Jetzt scheint die Sache umgekehrt zu sein. Indien möchte bei der Grenzfrage vorankommen, doch offensichtlich will China gegenwärtig diese Frage offenlassen.
Die Beziehungen zwischen beiden Staaten sind heute freundschaftlich, es gibt viele Gemeinsamkeiten in weltpolitischen Fragen, der Handel ist beträchtlich, die wirtschaftliche Zusammenarbeit nimmt an Fahrt auf. Doch immer wieder wird spürbar, dass China auf weltpolitischer Bühne in einer anderen Liga spielt und immer die USA im Blick hat. Vom großen Nachbarn Indien wird mehr Verständnis für seine Politik erwartet. Eine sich andeutende engere Kooperation zwischen Indien und den USA auf dem Gebiet der Rüstung und in ausgewählten militärischen Feldern wird mit Misstrauen betrachtet. Auch die in chinesischen Augen sorglose indische Haltung zu dem von den USA angestrebten asiatisch-pazifischen Freihandelsabkommen, das alle Nichtteilnehmer wirtschaftlich schwer treffen würde, bewegt China. Schließlich wünscht sich China eine entgegenkommende indische Haltung zu seinen „Seidenstraßen“-Projekten, von denen auch Indien profitieren könnte. In all diesen Fragen scheinen die Gründe zu liegen, warum China in der Grenzfrage gegenwärtig eine abwartende Haltung einnimmt – es will nicht vorzeitig Druckmittel gegen Indien aus der Hand geben.
Die indische China-Politik befindet sich gegenwärtig in einem Prozess des Suchens. Bemühungen seiner Diplomatie, mit Hilfe Chinas Pakistan zu einer kooperativen Haltung zu bewegen, fruchten bisher nicht. So bleibt im Moment Premierminister Narendra Modi nichts weiter übrig, als über fehlendes Vertrauen zwischen den beiden Staaten zu klagen. Doch gleichzeitig baut Indien Einreisehemmnisse für chinesische Bürger ab und in einer wohl einmaligen Geste entschuldigte sich der indische Innenminister (der als harter Nationalist gilt) für die Internierungen und andere Zwangsmaßnahmen gegenüber der chinesischen Minderheit während der kriegerischen Auseinandersetzungen 1962.
Auch wenn es auf manchen Gebieten nicht vorwärts geht, mehren sich doch die Hoffnungszeichen, dass im Schatten der Achttausender Konfrontationen abgebaut und eine Hinwendung zu einem Miteinander vor sich geht.
Schlagwörter: China, Edgar Benkwitz, Indien, Pakistan