18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Nur die Gänse fliegen in die Freiheit

von Arndt Peltner, Oakland

6.00 Uhr morgens vor dem Tor des berühmten Gefängnisses San Quentin. Autos kommen, Autos gehen, Schichtwechsel im ältesten Knast Kaliforniens. Nach ein paar Minuten werde ich am Tor abgeholt. Kurz den Ausweis zeigen, mich auf einer Liste eintragen, dann geht es rund 200 Meter weit auf das eigentliche Hauptgebäude zu. Dort wird mir ein Leuchtstempel auf den rechten Unterarm gedrückt, den ich beim Verlassen vorzeigen muss. Mit einem lauten Knallen öffnet sich die erste eiserne Schleusentür. Nachdem diese hinter mir zuknallt, geht die zweite auf. Rechts liegen die Gebetsräume der Katholiken, der Protestanten, der Juden und Moslems. Links steht der „Adjustment Center“, eine Art Gefängnis im Gefängnis, in dem die gefährlichsten Häftlinge Kaliforniens untergebracht sind, jene, die nicht mit der Wimper zucken würden, wenn sie einen anderen mit einer angespitzten Zahnbürste abstechen könnten.
Mein Weg geht um das Gebäude herum, entlang der Speisesäle. Im ersten fand das berühmte Konzert von Johnny Cash am 24. Februar 1969 statt. Innen erinnert nichts an dieses historische Musikereignis. „San Quentin you’ve been living hell to me“, sang Cash und die Gefangenen jubelten ihm zu. Sie waren in der Hölle angekommen und Johnny Cash sprach das ganz deutlich aus.
Hier, direkt an der San Franciso Bay gelegen, sind die in Kalifornien zum Tode Verurteilten untergebracht. Derzeit etwa 750 Todeskandidaten, die getrennt untergebracht sind. Wer die „Death Row“ sehen will, braucht eine Sondergenehmigung von ganz oben.
Der Großteil der Gefangenen in San Quentin sitzt langjährige und lebenslange Haftstrafen ab. Zu zweit sind sie in 2,30 Meter mal 1,40 Meter kleinen Zellen untergebracht. Darin ein Stockbett, eine Toilette, ein Waschbecken, zwei Regale. Später stehe ich in so einer Zelle, ich muss seitlich hineingehen, der Abstand zwischen Bett und Wand ist zu schmal für einen normal gebauten Mann.
Im „South Block“ kommen mir die ersten Gefangenen entgegen, in einer langen Reihe laufen sie zum Speisesaal. Viele Afro-Amerikaner und Latinos, ein paar Weiße, kaum Asiaten. Die meisten sind tätowiert, einige am Hals, im Nacken, auf der Stirn. Gang-Initialen, Hakenkreuze, SS-Runen. Im Speisesaal, der „Chow Hall“, bekommen alle das gleiche Essen auf einem Tablett durch ein kleines Fenster serviert. Waffeln mit Sirup, Butter, zwei Äpfel, eine Tüte Milch. Wer will kann sich Ersatzkaffee aus einem Wärmebehälter herauslassen. Besteck gibt es keines. Zehn Minuten sitzen die Gefangenen an im Boden eingelassenen Tischen, dann werden sie aufgerufen, ihre Tabletts vorne abzugeben. Jeder greift sich am Ausgang eine braune Papiertüte, darin das „Lunch“, ein Sandwich, Fruchtgetränk, Obst. Zurück im „South Block“ gehen die Häftlinge langsam in ihre Zellen zurück. Vier Stockwerke übereinander, auf jeder Seite des Blocks 250 Zellen. In jedem Block sind 1.000 Häftlinge untergebracht. Insgesamt sind im 162 Jahre alten Gefängnis von San Quentin weit über 4.200 Häftlinge interniert. Auf dem Boden des Süd-Blocks liegt Abfall, den die Gefangenen einfach durch die Gittertüren schmeißen. Es ist laut, es wird durcheinander geredet, einige beäugen den Gast mit dem Aufnahmegerät in der Hand. Mithilfe kleiner Spiegel werde ich aus den Zellen heraus beobachtet. „Hey, komm mal her“, ruft einer. Ein anderer schreit „Was willst Du hier“. Plötzlich schrillt eine Trillerpfeife, zehn, zwölf, fünfzehn „Correctional Officers“, Vollzugsbeamte, rennen die Stahltreppe hinauf. Im zweiten Stock kam es in einer Zelle zu einer Schlägerei. Die beiden Streithähne werden nach draußen gezogen, auf den Boden gedrückt und in Handschellen gelegt. Beide werden abgeführt. Ein normaler Zwischenfall, der allerdings sofort von Seiten der „Beamten“ unterbunden wird, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Und die könnte leicht eskalieren.
Mehrmals noch begleite ich Gefangenenreihen in die Speisesäle. Dort sieht man auch eines der beeindruckendsten Wandbilder in den USA. 1953 begann der Häftling Alfredo Santos an seinem Monumentalwerk zu arbeiten. Zwei Jahre lang malte er Tag für Tag an der Geschichte Kaliforniens. Auf sechs Wänden, jeweils 30 mal 4 Meter, schuf er ein einzigartiges Wandgemälde, dessen Stil an Diego Rivera und die Plakatkunst der 1930er und 1940er Jahre erinnert. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Entlassung konnte Alfredo Santos sein Bild wiedersehen. Es war hinter Gittern gesichert.
Nach dem Frühstück beginnt der Arbeitstag für etliche Gefangene. Sie werden in der Küche, in der gefängniseigenen Möbelfabrik, bei Garten- und kleineren Bauarbeiten eingesetzt. Für mich geht es quer über den großen Innenhof, auf dem bereits die streng getrennten Gruppen und Gangs ihre Ecken abgesteckt haben. Am Basketballplatz die verschiedenen afro-amerikanischen Gangs, dort an den Klimmzugstangen die Mexikaner, auf den Bänken weiter hinten die Weißen. Und auch untereinander gibt es noch etliche Trennungen. Man muss hier als Neuankömmling aufpassen, wo man sich hinsetzt, wird mir gesagt. Eine falsche Handlung könnte schlimme Folgen haben. Am hinteren Ende des Hofes, gleich neben dem Baseballfeld auf dem ein paar kanadische Gänse einen Stopp eingelegt haben, liegt ein Flachbau, in dem der Fernsehsender des Gefängnisses und die San Quentin News untergebracht sind. In den 1940er Jahren gründete Clinton Duffy der damalige Direktor die Zeitung. Er gilt noch heute als einer der progressivsten Direktoren, denn Duffy verbot seinen Wärtern Häftlinge zu schlagen, schloss das Kellergewölbe, in dem Gefangene in Dunkelzellen vergessen wurden und er setzte auf Resozialisierung. Duffy führte Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme wie die Zeitung ein. Die gibt es heute noch immer. Und besser als je zuvor. In diesem Jahr wurde sie mit einem bedeutenden journalistischen Preis ausgezeichnet, dem „James Madison Freedom of Information Award“. Juan Haines ist der Chef vom Dienst. Ein kleiner Afro-Amerikaner, der mir von der Geschichte der San Quentin News erzählt. Wir sitzen mit vier weiteren Gefangenen an einem Tisch. Sie berichten vom Zeitungsmachen hinter Gittern, von der Bedeutung eines Sprachrohrs für Häftlinge, von den Schwierigkeiten der Recherche ohne Internet und ohne Bewegungsfreiheit. Und doch, sie alle lieben ihre Aufgabe. Auf meine Frage, wer von ihnen denn nach ihrer Entlassung weiterhin journalistisch arbeiten will und wird, schauen sie sich nur gegenseitig wortlos an. „Wir haben alle eine lebenslängliche Haftstrafe“, meint schließlich Juan Haines. Eine Aussicht auf Entlassung, auf Freiheit, auf eine zweite Chance haben diese Männer nicht. San Quentin ist eine eigene kleine Gemeinde am Rande der San Francisco Bay. Hier lernt man das Leben ganz neu zu betrachten. Als Gefangener und auch als Besucher.