von Bernhard Romeike
Im Februar 2015 waren Angela Merkel und der französische Präsident Hollande nach Moskau gereist, um die Waffenstillstandsvereinbarung in Sachen Ukraine vorzubereiten, die dann in Minsk erzielt wurde. Dazu wurde kommentiert: „Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin war es ein Triumph, dass die derzeit mächtigste europäische Politikerin nach Moskau gereist ist.“ Wie bitte? Geht’s noch? Wie aufgeblasen ist denn dieses Deutschland schon wieder, dass so etwas als Bewertung durchgeht? Der Präsident Russlands darf sich schon deshalb glücklich schätzen, weil die deutsche Kanzlerin ihm die Ehre ihres Besuches gibt?
Derselbe Kommentator meint auch feststellen zu sollen: „Einzig Stärke ist die Sprache, die Russlands Präsident versteht.“ Das war übrigens auch schon die Einschätzung der deutschen Führung im Sommer 1914 – und 1941, als zum Überfall auf die Sowjetunion angetreten wurde, auch wieder. Das Ergebnis war dann am 8. Mai 1945 zu besichtigen. Insofern wäre gerade angesichts des 70. Jahrestages der Befreiung auch des deutschen Volkes vom Faschismus und des Sieges über Hitlerdeutschland etwas mehr Zurückhaltung angesagt. Aber das scheint dem staatstragenden deutschen Denken fremd zu sein, wenn es sich wieder in der „mächtigsten“ europäischen Rolle wähnt.
Die Zitate stammen übrigens von einem Mann, der die deutsche Regierungspolitik zu beraten hätte. Er heißt Stefan Meister und ist „Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert-Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP“. Der sperrige Titel sagt: Meister ist der Zuständige für Russlandanalyse bei der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“, die wiederum sich als „das nationale Netzwerk für Außenpolitik“ (man beachte das „das“) versteht, das „seit mehr als 50 Jahren die außenpolitische Meinungsbildung in Deutschland“ betreibt. Über das Forschungsinstitut der DGAP heißt es, es realisiere „eine handlungs- und praxisorientierte Forschung an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien“. Mit anderen Worten, Meisters Draht zum Bundeskanzleramt und zum Auswärtigen Amt sollte per definitionem recht kurz sein.
Was aber, wenn diese Untersuchungstätigkeit von völlig falschen Zielvorstellungen ausgeht? Dass es für Deutschland, die EU, ja „den Westen“ um „einen mittel- bis langfristigen Politikwechsel“ in Russland gehe, wird tatsächlich vorausgesetzt. In Meisters DGAP-Papier, das den Titel trägt: „Thesen für eine neue deutsche Russlandpolitik“ (datiert auf März 2015), steht das in der Präambel, als allgemeine Zielvorgabe, als selbstverständlich. Russland soll nach deutschem Gusto zugerichtet werden. Dem solle eine Politik dienen, die aus „einer Mischung aus Eindämmung und Kooperation“ besteht. So weit sind wir schon wieder: Deutschland – gestützt auf EU, NATO und USA – „dämmt“ Russland ein. In einer Anwandlung von Realismus muss Stefan Meister dann zugeben, dass die russische Führung ihr System stabilisiert habe; die Zustimmungsraten für Präsident Putin lägen bei 80 Prozent. So sei der Weg noch lang; „nur Regimewandel kann echte Veränderungen bringen“. Worin die bestehen sollen, sagt der Autor nicht. Gemeint ist die Unterordnung Russlands unter die Macht des Westens, als Junior-Partner. Aber der ersehnte Regimewandel könne „nur aus Russland selbst heraus erfolgen, was auf absehbare Zeit unwahrscheinlich erscheint“. Deshalb die Mischung aus Druck von außen und Kooperation mit den „richtigen“ Leuten, denen, die im Sinne des Westens agieren wollen oder sollen.
Aber auch die Analyse Meisters fußt auf falschen Voraussetzungen. Für ihn bilden die Demonstrationen in Moskau und anderen großen Städten Ende 2011/Anfang 2012 einen politischen Einschnitt. Sie hätten für einen Politikwechsel gestanden – tatsächlich waren es einige 10.000 Demonstranten, 60.000 oder 70.000 in einer Stadt wie Moskau, die etwa zwölf Millionen Einwohner hat. Davor habe Putin so große Angst bekommen, dass er eine absichtliche Politik zur Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen betrieben habe. Der Konflikt um die Ukraine sei daher „ein Stellvertreterkrieg mit dem Westen“ – so Meister in einem Standpunkte-Papier der DGAP vom 8. September 2014 – und diene einzig dem Machterhalt und der Verhinderung des oben beschriebenen Wandels. So habe Putin „durch Freund-Feind-Rhetorik den Westen wieder zum Hauptfeind für die Sicherheit Russlands“ gemacht, und damit punkte er bei der russischen Bevölkerung. Die Zustimmungsraten von 80 Prozent seien das Ergebnis.
Zugleich wird der russischen Politik wieder vorgeworfen, sie agiere „aus sicherheits- und geopolitischer Perspektive“. Als wenn NATO und Europäische Union nicht geopolitische Strukturen wären, die seit dem Ende des Kalten Krieges immer weiter nach Osten vorgeschoben wurden! In diesem Sinne wird denn auch die Sanktionspolitik des Westens in Ursache und Wirkung verdreht. Heuchlerisch schreibt Meister: „Die enge ökonomische und energiepolitische Verzahnung, von EU-Seite stets als Mittel der Vertrauensbildung und win-win-Situation gefördert, wird aus russischer Sicht jetzt vom Westen als ‚Waffe‘ eingesetzt, um von der russischen Seite Zugeständnisse in der Ukrainekrise zu erzwingen.“ Als handele es sich um eine falsche Wahrnehmung der Russen und nicht um eine falsche Politik des Westens.
Zum Minsk-II-Abkommen meint Meister, die russische Führung habe sich dem Ziel genähert, „die Ukraine in ihrem Einflussbereich zu halten“ (DGAP-Standpunkte-Papier vom 23. Februar 2015). Deshalb empfiehlt er der deutschen beziehungsweise EU-Außenpolitik, „den Verlust der beiden separatistischen Regionen“ – Donezk und Luhansk – ebenso zu „akzeptieren […] wie den der Krim“. Auf diese Weise solle der „Rest der Ukraine“ gerettet und eine weitere Destabilisierung des Staates – für die natürlich wieder Russland verantwortlich gemacht wird – verhindert werden. Die EU solle einen Grundsatzbeschluss über die Integration der Ukraine treffen und deren „Wiederaufbau“ per Marshallplan finanzieren.
Damit würde, obwohl in den Meister-Papieren ständig die Rede davon ist, wie Russland intrigiere und den Westen hintergehe, von deutscher Seite das Minsk-II-Abkommen aufgekündigt. Wer solche Berater hat, braucht sich um das Scheitern seiner Politik nicht sorgen.
Der Merkel-Besuch in Moskau, aber nicht am 9. Mai, dem Tag des Sieges, passt jedoch ins Bild. Auch der großartige Ball des Heeres am 9. Mai 2015 in Berlin.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Minsk II, Russland, Stefan Meister