von Horst Möller
„So mußte es beim Versuch bleiben, und Phineus erstarb in seiner Blindheit“, schließt Heinz Zanders Erzählung „König Phineus und die Austreibung der Harpyien“. Sieben Jahre waren ins Land gegangen, nachdem der Autor unterm Datum des 31. März 1984 sein Manuskript im Reclam-Verlag Leipzig eingereicht hatte, bis es 1991 von Hans Marquardt als elfter und letzter Druck der Dürer-Presse herausgegeben worden ist. Das Ersterben in Blindheit hatte sich inzwischen ereignet, wohl ohne dass es von Heinz Zander so vorher gesehen worden war, als er den Faden des Phineus-Mythos aufgenommen und weitergesponnen hatte. Denn außer dass er in seinem Text die Harpyien tagsüber anrauschen lässt, die Phineus immer, wenn er sein Mahl zu sich nehmen wollte, das Essen wegschnappen und den Rest mit Kot besudeln, dürfen sie bei ihm zusätzlich auch nachts angeflattert kommen, um dem blinden, wahrsagenden König verführerische Gesänge zuzuflüstern. Durch sie erst, heißt es in Fortführung der Fabel, wurde Phineus zu seiner Wahrsagerei befähigt.
Mit dieser seiner Gabe war es jedoch vorbei, nachdem Kalais und Zetes, Gefährten der Argoschiffer, ihrem Ex-Schwager die Harpyien mit Pfeil und Bogen vom Halse geschafft hatten, was diesen nun fragen ließ: War ich weise als Phineus, oder war ich wissend wahrsagend nur als der bestrafte Phineus, verdankte ich allein den Peinigern, ihrem Gesang, eben dem Harpyiengesang, all mein Wissen? Heinz Zander zielte ganz offenkundig auf Wolf Biermann. Ein Blinder kann sehend sein, sofern er sich die Wahrheit flüstern lässt. Der blinde Phineus, das heißt die blinde Obrigkeit („Ach Sindermann, du blinder Mann / Du richtest nur noch Schaden an“), funktioniert nicht mehr, nachdem die Einflüsterer verscheucht sind. Wie ein Blinder sehend sein kann, so wird im Umkehrschluss ein Sehender blind, sobald er die Augen vor der Realität verschließt.
Auf ein solches punktuelles Verständnis möchte der Autor seine Geschichte freilich nicht verkürzt wissen. In seinem Nachwort zum Text und zu den Illustrationen zitiert der Leipziger Gräzist Jürgen Werner aus einem Brief, in dem Heinz Zander selber eine Interpretation bietet: „Großes Leiden schafft ungewöhnliche, allgemein bewunderte Klarsicht. Endlich glückliche Heilung wirft auf den herrschenden Durchschnitt zurück. Die Argonauten sind nichts anderes als Werkzeuge des in der Welt herumabenteuernden Durchschnitts, Werkzeuge der – Normalität ersehnenden – Gewöhnlichkeit.“ Zander, „der Poet unter den Malern“ (Hubert Witt), gehörte der zweiten Generation der Leipziger Malerschule an. Als doppelt begabt zu gelten, dagegen hat er sich allerdings stets verwahrt, ohne Koketterie. Er war von 1967 bis 1970 Meisterschüler bei Fritz Cremer und in dessen Atelier in der Akademie der Künste mit leidgeprüften Klarsichtigen vertraut geworden, unter anderem mit Stephan Hermlin, Autor der Nacherzählung „Die Argonauten“, illustriert von Fritz Cremer, erschienen im Kinderbuchverlag Berlin 1974. Da ging es um nichts Geringeres, als den Mythenschatz der Antike unverfälscht darzubieten und nicht ideologisiert, wie vormals grotesker Weise etwa die Geschichte von Jason und Medea als abschreckendes Beispiel für „Orientalisierung des Abendlandes“ und „Entnordung der Arier“ (siehe Johann Chapoutot „Der Nationalsozialismus und die Antike“).
Ein Abdriften ins Unverbindliche bedeutet „König Phineus und die Austreibung der Harpyien“ dennoch mitnichten, was allein schon durch die exquisite, sich über Normalität und Gewöhnlichkeit hinweg setzende bibliophile Editionsform der Erzählung sichtbar wird. Sich ihrer Macht zu vergewissern und sie als Macht auch einzusetzen bleibt der Kunst allezeit aufgegeben. Eine vereinzelte Harpyie, Konstantin Wecker, gibt in seinem offenen Brief an Alexis Tsipras anlässlich dessen Berlin-Besuchs am 24. März 2015 ein Beispiel. Es heißt da unter anderem: „KünstlerInnen sind heute, soviel ich weiß, nicht eingeladen in Berlin. Ist ja auch kein Wunder. Unserer Kanzlerin geht es ausschließlich um ein Europa des Geldes und nicht der Kultur und der Künste. Was Sie vermutlich so sehen wie ich, und auch unser gemeinsamer Freund Mikis Theodorakis dürfte das kaum anders einschätzen. Da zählen auch Merkels demonstrative Besuche der Bayreuther Wagner-Festspiele nichts. Lieber Herr Tsipras, zeigen Sie uns, dass die europäische Idee etwas anderes bedeutet, als ausschließlich auf seinen Geldbeutel zu glotzen. Etwas anderes als eine ausschließlich profitfixierte bad Bank. Und – dass wir es ja nicht vergessen: Mit Schweigen, juristischen Tricks und Verzögerung hat sich Deutschland jahrzehntelang vor der Leistung notwendiger Reparationszahlungen und der Rückzahlung der Zwangsanleihe gedrückt. Völlig zu Recht verlangt die aktuelle griechische Regierung, dass Deutschland sich nicht nur verbal zur Verantwortung für die Untaten des Nazismus in Griechenland bekennt. Und viele Menschen in Deutschland sind einig mit mir: Auf diese schäbige Weise Opfer der Naziverbrechen von einst zu BittstellerInnen heute zu machen, das ist für Griechenland und dessen BürgerInnen zutiefst entwürdigend und von Seiten der deutschen Politik aus zutiefst würdelos. Viele Deutsche sind deswegen heute ganz auf Ihrer Seite! Und seien Sie versichert: das gilt nicht nur für den heutigen Tag!“
Herbei, o Ihr Harpyien alle, wohin Ihr Euch auch immer habt verscheuchen lassen, herbei mit Euch!
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