18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Ein Student, der nicht saufen kann, niemals!

von Dieter Naumann

Mit diesen Worten soll der Historiker Heinrich Gotthard von Treitschke (1834-1896) 1896 der damals 25-jährigen Hildegard Wegscheider (1871-1953) die Bitte abgeschlagen haben, an seinen Vorlesungen an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität teilnehmen zu dürfen. Zwei Jahre später promovierte sie in Halle im Fach Philosophie. Treitschke, berüchtigt als Antisemit („Die Juden sind unser Unglück“), war nicht der Einzige, der Frauen den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen zu verwehren suchte und dazu die abenteuerlichsten „Argumente“ ins Feld führte.
Der deutsche Anatom und Physiologe Theodor Ludwig Wilhelm von Bischoff (1807-1882) meinte 1872: „Die Beschäftigung mit dem Studium und die Ausübung der Medicin widerstreitet und verletzt die besten und edelsten Seiten der weiblichen Natur, die Sittsamkeit, die Schamhaftigkeit, Mitgefühl und Barmherzigkeit, durch welche sich dieselbe vor der männlichen auszeichnet.“ Im Übrigen sei die Frau auch vom Körperlichen her nicht zur Ausübung des Arztberufes geeignet. Als in einer Petition die Forderung nach Zulassung von Frauen zum Studium an deutschen Universitäten gestellt wurde, löste das am 11. März 1891 im Reichstag noch „ungeheure Heiterkeit“ aus, erinnerte sich Franziska Tiburtius 1923.
1900 gab die Hallenser Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold erstmals den 23-seitigen Essay des zuvor weitgehend unbekannten Neurologen und Psychiaters Paul Julius Möbius (1853-1907) „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ heraus. Während einer in Deutschland heftig geführten Polemik über die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium erschien der Essay in vielfacher Auflage auch als Einzelband. Frauen hätten von Natur aus eine physiologisch bedingte geringere geistige Begabung als Männer, dieser weibliche Schwachsinn sei eine für die Arterhaltung wichtige positive Eigenschaft, da übermäßige Gehirntätigkeit der Fortpflanzung nicht dienlich sei. Mit seinem Buch reich geworden, stiftete Möbius sein Vermögen für einen Wissenschaftspreis. Zu den Preisträgern gehörte 1920 ausgerechnet die Gehirnforscherin Cécile Augustine Marie Vogt (1875-1962), die später feststellen sollte: „Jedenfalls kann man auf Grund des heutigen Standes der Hirnforschung die Frau als solche von keinem Beruf ausschließen.“ Wenn das Möbius gewusst hätte!
Max Funke (1879-1943), deutscher Autor, machte 1910 mit seiner ebenfalls bei Marhold erschienenen, „auf Grund wissenschaftlicher Quellen“ verfassten Schrift „Sind Weiber Menschen? Mulieres homines non sunt“ von sich reden. Aufgrund ihres geringeren Schädelvolumens sei die Frau evolutionsgeschichtlich lediglich Bindeglied zwischen Mensch und Menschenaffen, deshalb als „Halbmensch“ einzustufen und als dem Mann unterlegen zu betrachten.
Nach seinerzeitiger allgemeiner Auffassung sollte der Mann für den Broterwerb sorgen und die öffentlichen Aufgaben, etwa in Politik, Wissenschaft und im Rechtswesen wahrnehmen. Die Frau hatte sich hingegen um die Familie und den Hausstand zu kümmern. Allegorische Darstellungen jener Zeit zeigten die Frau folgerichtig als barmherzige Schwester, Wartefrau, Lehrerin, Schneiderin, Hausmädchen, Arbeiterin oder Bäuerin. Für diese Bildungsziele reichten vor allem höhere Töchterschulen und Privatunterricht mit einer vorrangig schöngeistigen Fächerpalette völlig aus. Dagegen handele „eine Frau, die ein Studium begehrt, […] wider die Ordnung der Natur, ist eine reine Unnatur, ist roh und hässlich, ein Mannweib, ein Zwitterwesen“ – so von Bischoff 1872.
Es dürfte unter diesen Bedingungen kaum erstaunen, dass bis 1900 kein deutscher Teilstaat das ordentliche Frauenstudium ermöglichte, ehe im Wintersemester 1899/1900 das Großherzogtum Baden den Anfang machte, gefolgt vom Königreich Bayern (Wintersemester 1903/04), dem Königreich Württemberg (Sommersemester 1904), dem Königreich Sachsen (Sommersemester 1906), dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (Sommersemester 1907), dem Königreich Preußen, dem Großherzogtum Hessen und dem Reichsland Elsaß-Lothringen (jeweils Wintersemester 1908/09) sowie dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin (Wintersemester 1909/10).
In Zürich konnten Frauen bereits ab 1867 als ordentliche Studentinnen studieren, Hörerinnen waren schon einige Jahre zuvor zugelassen. Die „Universitas Turicensis“ war damit die erste deutschsprachige Hochschule, die Frauen das Studium und den Studienabschluss erlaubte. Logisch, dass diese Möglichkeit auch von deutschen Frauen genutzt wurde.
Zu ihnen gehörte die in Bisdamitz auf Rügen als jüngstes von neun Kindern geborene Franziska Tiburtius (1843-1927). Nach ihrem Lehrerexamen an der Privatschule der Geschwister Volkmann in Stralsund und einigen Jahren als Gouvernante, Erzieherin und Lehrerin musste sie nach Zürich gehen, um dort – überredet von ihrem Bruder Carl, selbst Arzt und später auch mit einer Ärztin verheiratet – von 1871 bis 1876 Medizin studieren zu können. In ihrem Buch „Erinnerungen einer Achtzigjährigen“ schildert Tiburtius die Immatrikulation und den Semesterbeginn: Nach einem Handschlag mit dem Rektor Prof. Adolf Ludwig Sigismund Gusserow (1836-1906) wurden die Statuten der Universität überreicht und das Versprechen abgenommen, sich allen gesetzlichen Anordnungen zu fügen, also zum Beispiel nachts auf den Straßen nicht laut zu singen und Radau zu treiben; nach gegenseitiger Verbeugung wurde Tiburtius durch den Pedell hinausbegleitet – das war’s. Die erste Vorlesung, Anatomie bei Prof. Georg Hermann von Meyer (1815-1892), begann dagegen etwas turbulenter: Unter den männlichen Studenten auch anderer Disziplinen hatte sich die Anwesenheit der Studentinnen herumgesprochen und „[…] als wir eintraten, war der Saal dicht gefüllt […] und es erhob sich ein wüster Lärm, Schreien, Johlen, Pfeifen usw.“. Der Professor, vom Pedell über den Aufruhr informiert, warf die Unruhestifter schließlich hinaus…
Franziska Tiburtius promovierte mit dem Prädikat summa cum laude und ging zur Weiterbildung nach Dresden zu Geheimrat Franz Wilhelm Carl Ludwig von Winckel (1837-1911), der die einstige Königliche Landesentbindungsschule zur modernen Frauenklinik umgewandelt hatte und zur damaligen Zeit als einziger Professor Assistentinnen akzeptierte und ausbildete. Trotz ihrer manchem männlichen Kollegen durchaus überlegenen Ausbildung wurden Tiburtius und ihre Kommilitonin und Freundin, die Pfarrerstochter Emilie Lehmus (1841-1932), die ebenfalls mit „Auszeichnung“ promoviert hatte, als „Heilbehandlerinnen“ zunächst nur zur Ausübung einer Heilpraxis zugelassen. Noch immer galten beide als Exoten, über die der Kladderadatsch witzelte, weibliche Ärzte seien oberflächlich, die Bekleidung einer Patientin sei ihnen wichtiger als die Diagnose. Der Artikel erwies sich nicht nur als vorzügliche Reklame, ein angeregtes Gespräch zwischen Tiburtius und dem Verleger des wöchentlich erscheinenden Satireblattes, Wilhelm Ernst Dohm (1819-1883), beseitigte auch die bestehenden Vorurteile.
1878 legten Lehmus und Tiburtius in einer vom Brauerei- und Hausbesitzer Julius Bötzow kostenlos überlassenen Hofwohnung in der Berliner Alten Schönhauser Straße 23/24 den Grundstein für die erste „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“, die zunächst lediglich aus zwei Zimmern und einer Küche bestand und 1881 durch eine Pflegeanstalt für ruhebedürftige, arme Frauen und einen Operationssaal erweitert wurde. Bereits in die erste Sprechstunde kamen zwölf Frauen, in den ersten zehn Monaten sollen bei 2.900 Konsultationen 1.325 Patienten behandelt worden sein. Zur Deckung der Kosten erhoben sie je „Konsultation 10 Pfennige, für Unbemittelte Arznei kostenlos“. Der Erfolg rief offenbar Neider auf den Plan; in einer anonymen Anzeige wurde Tiburtius Titelmissbrauch vorgeworfen. Der Staatsanwalt fordert drei Mark Konventionalstrafe, das Gericht erkannte jedoch auf Freispruch. Frau Dr. Tiburtius musste sich nun aber in Abgrenzung zu den „richtigen“ deutschen Ärzten „Dr. med. der Universität Zürich“ nennen – das freilich verstärkte den Patientenzustrom sogar, denn einen „so langen Titel auf dem Schild, kein anderer hat den – in ganz Berlin nicht!“
Eine Gedenktafel erinnert seit 2006 an die Klinik, die zunächst in die Gleditschstraße 48 (1901) und später (1914) in die Adalbertstraße 4 umzog und aus der eine moderne chirurgische Klinik wurde.
In ihrem 1923, also noch zu Lebzeiten, in der Berliner Verlagsbuchhandlung C. A. Schwetschke & Sohn erschienenen Buch „Erinnerungen einer Achtzigjährigen“ schreibt Franziska Tiburtius resümierend: „Mein Leben ist köstlich gewesen, denn es ist Mühe und Arbeit gewesen.“