18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Apokalypse 1933

von Max Herrmann-Neiße

Es schreit der Leidende; das Echo schweigt,
der Nachbar stellt sich taub, die Welt bleibt träge.
Der Unstern hat am Himmel sich gezeigt,
und schwächer werden aller Herzen Schläge.
Die Wolke überm Meere war ein Schwert.
Es ängstet Feuersbrunst der Frauen Träume.
Durch Rosen stampft des wilden Reiters Pferd.
Unendlich drohn der Zukunft dunkle Räume.
Die Guten bleiben immer auf der Flucht,
es ist dem Freiwild keine Rast beschieden,
es führt der Weg durch manche Tränen-Schlucht,
doch nirgendwo zu Heimat, Glück und Frieden.
Denn Er, der Blutbefleckte, der Barbar,
ward aus den Unterwelten losgebunden
zur Menschenjagd mit seiner Mörderschar
und hetzt die Welt mit seinen Höllenhunden.
Die Sanftmut ist vor seinem Hass verloren,
der aller Liebe die Vernichtung bringt.
Kein Heiland wird dem Untergang geboren,
und eine letzte Kinderstimme singt:

„Wo sind all die Herrlichkeiten,
die der Mutter Lied verhiess!
Reifenspiel und Eselreiten,
unschuldsvoll im Paradies
von den goldnen Äpfeln essen,
die der Märchenbaum verlor?
Hat der Engel mich vergessen,
schloss der Gärtner schon das Tor?
Alle Träume sind verflogen,
einsam wachs ich in die Welt.
Hat der Mutter Lied gelogen,
ihren Stern der Tod entstellt?
Furchtsam seh ich durch die Scheiben
auf die Stadt aus fremdem Stein.
Muss das Leben Höllen bleiben,
darf kein Mensch mehr glücklich sein?“

Das offizielle Deutschland feierte dieser Tage 70. Jahrestage: des „Kriegsendes“, wie auf vielen Einladungen gedruckt steht. Dass dieses etwas mit dem Faschismus zu tun hat, das Jahr 1945 untrennbar mit dem Jahr 1933 zusammenhängt, soll dem Vergessen anheimfallen. Der Dichter Max Herrmann-Neiße musste 1933 aus Deutschland fliehen. Seine Bücher wurden verboten. Das Gedicht „Apokalypse 1933“ erschien zuerst im Heft IV/1934 der Zeitschrift Die Sammlung, die Klaus Mann 1934 und 1935 herausgab. Wir folgen der dort abgedruckten Textfassung. Max Herrmann-Neiße erlebte die Befreiung seines Volkes, das sich erbittert gegen seine Befreiung wehrte, nicht mehr. Er starb 1941 im Londoner Exil. Gestern jährte sich zum 81. Male der Tag der faschistischen Bücherverbrennungen in Deutschland. Die Austreibung des Geistes gehörte zu den unabdingbar notwendigen Schritten der Vorbereitung des großen Völkermordens.

W. Brauer