von Frank Ufen
Kapuzineraffen gelten als ziemlich clever. Doch was passiert, wenn man sie in einen Käfig steckt und ihnen alle 24 Stunden einen Berg von Keksen vorsetzt, sie die restliche Zeit aber hungern lässt? Die Affen schlagen sich jedes Mal gierig den Bauch voll und befördern die Kekse, die übrig geblieben sind, durch die Gitterstäbe nach draußen. Obwohl sie danach jedes Mal wieder hungern müssen, fällt es ihnen nicht im Traum ein, sich auch nur einen winzigen Teil der Kekse zurückzulegen.
Buschhäher haben die Angewohnheit, etliche Futterdepots anzulegen, um in mageren Zeiten mit genügend Nahrung versorgt zu sein. Erstaunlicherweise gelingt es diesen Singvögeln nicht nur, nahezu sämtliche ihrer sorgsam versteckten Vorräte später wieder aufzufinden. Sie scheinen noch dazu genau zu wissen, wo sie solche Nahrungsmittel gelagert haben, die bald verdorben sein werden, und wo solche, die noch ziemlich lange haltbar sind. In den Augen einer Reihe von Wissenschaftlern bedeutet das, dass der Buschhäher über so etwas wie ein episodisches Gedächtnis verfügt – das heißt er ist imstande, sich zu vergegenwärtigen, wann, wo und unter welchen Umständen er was getan hat.
Der deutsch-australische Entwicklungspsychologe und Primatenforscher Thomas Suddendorf hingegen hält es für viel wahrscheinlicher, dass sich die Buschhäher bei ihrer Suche nach den Lagerplätzen ihrer Vorräte von simplen Regeln leiten lassen. Etwa: Nach dem Versteck von rasch verderblichen Nahrungsmitteln wie Würmern suche nur dann, wenn deine Erinnerung an es noch einigermaßen intensiv ist. Doch wenn es beispielsweise um Nüsse geht, versuche ihr Versteck selbst dann wiederzufinden, wenn deine Erinnerung an es schon weitgehend verblasst ist.
Suddendorf räumt ein, dass es im Tierreich eine ungeheure Vielfalt kognitiver Fähigkeiten gibt und dass eine ganze Reihe von Tieren in bestimmten Bereichen zu außergewöhnlichen Denkleistungen imstande sind. Allerdings würden selbst die Geistesakrobaten der Tierwelt – die Großen Menschenaffen – zwar mit manchen Aufgaben verblüffend gut zurechtkommen, an etlichen anderen, nicht übermäßig anspruchsvollen hingegen kläglich scheitern. Suddendorf schließt daraus, dass die menschliche Spezies über ein einzigartiges Denkvermögen verfügt, das nur bei oberflächlicher Betrachtung mit dem der einen oder anderen Tierart einiges gemeinsam hat. „Wenn man die Schwelle niedrig ansetzt, kann man sogar zu dem Schluss gelangen, dass Papageien sprechen, Ameisen Landwirtschaft betreiben, Krähen Werkzeuge herstellen und Bienen in großem Maßstab kooperieren.“
Was die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes ausmacht, ist laut Suddendorf ein Ensemble eng miteinander verknüpfter kognitiver Kompetenzen. So verfüge allein die menschliche Sprache über eine rekursive generative Grammatik, die es ermöglicht, mit Hilfe einer endlichen Menge von Regeln unendlich viele Sätze hervorzubringen. Nur der Mensch sei imstande, über alles und jedes mit seinen Artgenossen zu kommunizieren. Außerdem seien ausschließlich Menschen in der Lage, höchst komplexe Szenarien zu entwerfen und durchzuspielen, imaginäre Zeitreisen in die Vergangenheit und in die Zukunft zu unternehmen und sich Gedanken über ihre eigenen Gedanken, Emotionen und Stimmungen und diejenigen anderer zu machen. Und schließlich seien Menschen geborene Imitationsvirtuosen, was sie befähige, kulturelles Wissen zuverlässig zu tradieren und zu akkumulieren.
Gestützt auf die neusten Erkenntnisse der Anthropologie, der Paläoanthropologie, der Evolutionsbiologie, der Verhaltensforschung, der Hirnforschung und der Kognitionswissenschaft arbeitet Thomas Suddendorf detailliert und präzise die Grenzen des Denkens der Tiere und die grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Denkens heraus. Das Buch, das dabei herausgekommen ist, genügt nicht nur den höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, es ist noch dazu exzellent und gut verständlich geschrieben. Schon jetzt ein Klassiker.
Thomas Suddendorf: Der Unterschied. Was den Mensch zum Menschen macht, Berlin Verlag, Berlin 2014, 464 Seiten, 22,90 Euro.
Schlagwörter: Anthropologie, Frank Ufen, Mensch, Thomas Suddendorf, Tierwelt