18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Partner auf Augenhöhe

von Mathias Iven

Zum wiederholten Male gilt es, einen Band mit Briefen von und an Harry Graf Kessler anzuzeigen. Hervorgegangen aus einer Dissertation präsentiert diese Edition die Korrespondenz mit Henry van de Velde. Selbst wenn es manche Lücke gibt und nur in etwa die Hälfte aller Schreiben überliefert ist, so haben wir doch immerhin 441 Schriftstücke vor uns, die in einem Zeitraum von vier Jahrzehnten gewechselt wurden.
Am 1. November 1897 begegneten sich Kessler und van de Velde zum ersten Mal. Wie und warum dieses Treffen in Berlin zustande kam, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Ausschlaggebend dafür dürften jedoch zwei ganz praktische Gründe gewesen sein: so suchte Kessler einerseits jemand für die Gestaltung einer Luxusausgabe von Nietzsches „Zarathustra“ – die allerdings erst zehn Jahre später erscheinen sollte – und andererseits ging es ihm um die Ausstattung seiner neu bezogenen Berliner Wohnung.
Die Persönlichkeit der beiden Protagonisten und ihre soziale Herkunft konnte wohl unterschiedlicher nicht sein: hier der als Mäzen und Förderer der Künste bekannte Kessler, dort der aufstrebende belgische Jugendstilkünstler van de Velde. Und so waren es auch nicht allein die gegenseitige Achtung oder der sie beherrschende Drang nach Selbstverwirklichung, die das Verhältnis der beiden in den nächsten Jahren prägen sollten. Der eigentliche Berührungspunkt, so die Herausgeberin in ihrer ausführlichen und äußerst inhaltsreichen Einleitung, war einzig die gemeinsame Liebe zur Kunst.
Die Korrespondenz der ersten Zeit belegt, dass sich hier nicht nur Auftraggeber und Auftragnehmer gefunden hatten. Kessler unterbreitete van de Velde seine gestalterischen Vorschläge und umgekehrt: Man arbeitete Hand in Hand. Zugleich bemühte sich der „Netzwerker“ Kessler darum, van de Velde in die Berliner Gesellschaft einzuführen, um dessen Werk einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen und ihm so neue Aufträge zu verschaffen. Eine im März 1900 veranstaltete Vortragsreihe, die eine ungewöhnlich positive Aufnahme fand und sogar wiederholt wurde, gab schließlich den Ausschlag für van de Veldes Übersiedelung nach Berlin.
Doch schon zwei Jahre später – auch hier hatte Kessler vermittelnd im Hintergrund gewirkt – kam es zu einem erneuten Ortswechsel. Van de Velde wurde in Weimar mit dem Aufbau des Kunstgewerblichen Seminars beauftragt, aus dem 1908 die Großherzoglich Sächsische Kunstgewerbeschule Weimar und schließlich 1919 das Bauhaus hervorgehen sollte. Kessler, der gleichfalls seinen Wohnsitz nach Weimar verlegte und ab 1903 die ehrenamtliche Leitung des Museums für Kunst und Kunstgewerbe übernehmen sollte, fasste diese Entwicklung wie folgt zusammen: „Es wird eine Art von Kunstlaboratorium in den Dienst der Industrie gestellt, das die der Industrie sich stellenden künstlerischen Aufgaben und Probleme bearbeitet und ihr die Lösungen zur Ausbeutung überläßt“. Und in einem an van de Velde gerichteten Brief erklärte er: „Wir bauen das auf, was uns vorschwebt: eine klare, gesunde, stärkende und produktive Lehre.“ Es ging um nichts weniger als um ein Pendant zur restriktiven Berliner Kulturpolitik, um eine Renaissance – es ging um das „Neue Weimar“.
Währende van de Velde sich im Zusammenhang mit der Gründung des Seminars vor allem mit organisatorischen Belangen befassen musste, nahm Kessler 1903 den Plan eines „Kunstfestes“ in den Blick. Sein Ziel war es, aus Weimar „wieder ein Kulturzentrum“ zu machen, dessen Atmosphäre „auf vielen Gebieten unseres Lebens mögliche Blüten fördern würde“. Doch Anspruch und Wirklichkeit klafften auseinander. Unabhängig von den immer deutlicher zutage tretenden Vorbehalten des Weimarer Hofes gegenüber Kessler fehlte diesem die Fähigkeit, sich ausschließlich auf eine Sache zu konzentrieren – und so blieb es denn in diesem Fall bei einer losen Folge von Veranstaltungen.
Zeitlebens ein Einzelgänger, hielt sich Kessler in der Folgezeit vorwiegend fernab von Weimar auf. Für van de Velde eine schmerzliche Erfahrung. Fühlte er sich doch trotz aller beruflichen Erfolge zusehends als Außenstehender. Im Juli 1908 klagte er gegenüber Kessler: „Ich habe mich niemals so fremd in Deutschland gefühlt wie jetzt, und ich fühle mich wie eine alte Hyäne im Käfig.“
Die von Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche ausgehenden Aktivitäten, die Weimar zum Ort einer großangelegten Nietzsche-Verehrung machen sollten, führten ab 1911 zu einer die gemeinsamen Weimarer Jahre abschließenden Zusammenarbeit mit van de Velde. Der aus dieser Zeit stammende Briefwechsel – parallel sollte man unbedingt auch die Korrespondenz Kesslers mit Förster-Nietzsche lesen (siehe „Zwei ungleiche Partner“, Das Blättchen, Sonderausgabe 28. Juli 2014) – dokumentiert das Ringen um eine künstlerische Lösung, die nichts Geringeres als die Erweckung eines neuen Griechentums vor Augen hatte.
Der letzte, mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges einsetzende Abschnitt der Beziehung von Kessler und van de Velde ist leider zugleich der am unzureichendsten dokumentierte. Gerade einmal 33 Schreiben sind aus der Zeit bis zu Kesslers Tod überliefert. Man sah sich kaum noch, es fehlten die Berührungspunkte für gemeinsame Projekte. Van de Velde, der 1917 in die Schweiz emigrierte, 1920 nach Holland ging und seit 1926 wieder in Brüssel wohnte, baute dort das Institut Supérieur des Arts Décoratifs auf – von ihm in Fortführung der Ideen der Weimarer Kunstgewerbeschule und des Bauhauses als die „dritte Zitadelle der Moderne“ bezeichnet. Hinzu kamen Lehrverpflichtungen und zahlreiche öffentliche Aufträge. Anders bei Kessler. Seine Interessen richteten sich in dieser Zeit zunehmend auf die politische Entwicklung im Nachkriegseuropa, wobei er sich schon Mitte der zwanziger Jahre wieder von der Politik zurückzog und sich ganz der Arbeit der 1913 von ihm gegründeten, für die Buchkunst des 20. Jahrhunderts richtungweisenden Weimarer „Cranach Presse“ widmete.
In Paris kam es zu einer letzten Begegnung. Van de Velde, im Rahmen der Weltausstellung mit den Arbeiten am belgischen Pavillon betraut, besuchte den schwerkranken Kessler am 26. Mai 1937 im Krankenhaus. Ein halbes Jahr später, am 30. November 1937, starb Kessler in Lyon – van de Velde sollte ihn um 20 Jahre überleben.
Ein ergreifender, von der Herausgeberin hervorragend kommentierter Briefwechsel, der einmal mehr auf Parallelen in der heutigen Kunst- und Auftragspolitik verweist.

Antje Neumann (Herausgeberin): Harry Graf Kessler – Henry van de Velde. Der Briefwechsel, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2015, 728 Seiten, 79,90 Euro.