18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Fulminantes Prosa-Debüt des Lyrikers André Schinkel

von Ulrich Kaufmann

Dreiundzwanzig Jahre hat es immerhin gedauert, bis der preisgekrönte Hallenser Lyriker, Essayist, Zeitschriften-Herausgeber und Lektor André Schinkel (Jahrgang 1972) seine Leserschaft mit einem eigenen Prosaband beschenkt hat. Dieses Buch mit achtundzwanzig Texten trägt den Untertitel „Erzählungen“. Der studierte Germanist und Archäologe Schinkel weiß, dass es sich bei der Mehrzahl der Texte nicht um Erzählungen im klassischen Verständnis handelt, sondern etwa um drei „Nachtstücke“, um einen dreiteiligen wunderbaren Kleist-Essay in Briefform und vieles mehr. Bei „Nachtstücken“ denkt der Leser an Träume, an E.T.A Hoffmann. Schinkel aber bietet weit mehr als drei – meist sehr bedrückende – Traumnotate.
Zehn seiner Prosatexte sind Miniaturen, die kürzeste umfasst ganze sechs Zeilen. Der Text „Momentum“ schildert auf zwei Druckseiten in nur einem Satz kunstvoll einen Nachtarbeiter mit „wundlektorierten Augen“. Diese Kleinsttexte (Kalendergeschichten, Fabeln, Parabeln) stehen beziehungsreich neben den größeren Arbeiten. Gerade in der epischen Kleinform zeigt sich Schinkel als Naturbeobachter hohen Ranges. Man fühlt sich an Strittmatter erinnert, spürt jedoch, dass Schinkel wohl andere Kreise anspricht als der Schulzenhofer Volksschriftsteller. Der Autor erweist sich in seinen kurzen und längeren Prosatexten oftmals als Kenner der Ornithologie. Eine Mönchgrasmücke, eine seltene Vogelart, erhält ein eigenes, sanftes „Kalenderblatt“, eine Fabel ist mit „Marabu“ überschrieben, ein weiterer Text mit „Schwalbe“ Es dürfte deshalb kein Zufall sein, dass das Cover vorn und hinten mit einem bunten Papageienkopf verziert ist.
Die Erzählung über einen jungen Journalisten mit dem zunächst locker und heiter daherkommenden Titel „Das Sommerloch“ (versehen mit dem ironischen Zusatz „Eine wahre Geschichte“) hat bei Schinkel ihren dunklen Untertext. In zwei Fällen zeigt der Meister der Verknappung, dass er mitunter auch über den langen Atem des Epikers verfügt. In den Geschichten „Heldenbank“ und „Das Licht auf der Mauer“ erzählt er in eher realistischer Manier Kriminalfälle, die sich als Liebestragödien heutiger junger Menschen im mitteldeutschen Raum entpuppen. In der ersten Erzählung wollen Frau und Mann vergebens aus ihren missglückten Ehen ausbrechen. Das Titelmotiv „Das Licht auf der Mauer“ steht für die „Morgenröte des Augenblicks“ im Herbst 1989, die der werdende Autor mit 17 Jahren erlebte. Großartig zeigt Schinkel, Jahre danach, wie unterschiedlich die Menschen auf dem Lande (mitten in der Ernte!) und die Städter in Leipzig, dem Zentrum der Friedlichen Revolution, den gesellschaftlichen Umbruch erleben. „Jene Nacht war es, da die Situation in der nahen, rußgoldenen Stadt Leipzig kippte und der Rausch der Siebzigtausend wie ein befreiender Atem, kurz, die Landschaft durchströmte…“ Simultan schildert Schinkel eine private Tragödie in einem Dorf, die mörderische Rivalität zweier Männer, die die schöne Ludmilla zu erobern suchen.
Der Autor, kein Freund der Mainstream-Prosa, wie ein Kritikerkollege treffend formulierte, verlangt seinen Lesern einiges ab: Englische Motti, Spezialwissen zur Mythologie, zur antiken Kunst und Literatur und manches mehr. Hier ist die Freude des spurensuchenden Lesers gefragt. Vielleicht hätte auch der Verlag knappe Lesehilfen geben können, wie sie – zumindest in Lyrikbänden – nicht unüblich sind. Schinkel besticht durch seinen genauen Umgang mit dem Wort. Als Erzähler bevorzugt er einen Stil, in dem er etwa die schönen Dinge des Lebens, die Liebe, das Trinken und Essen, genussvoll und deftig darzustellen weiß. Mitunter scheint er über das Ziel hinaus zu schießen. Das Wort „ficken“ kommt auffällig oft vor und steht für die Verrohung im Umgang der Menschen. Schinkel als sensibler und genauer Beobachter vermag es (so in dem zweiseitigen Text „Unter den Sternen“), die erste Begegnung zweier Liebender zart zu erfassen. „Die Frage, wie sie sich am nächsten Morgen ihren jeweiligen Partnern erklären sollten, stand nicht im Raum…“
Der Dichter schildert nicht selten Figuren, die sich in „grenzenloser Einsamkeit“ befinden, beschreibt Künstler als materiell schlecht gestellte „Außenseiter“, als Heimatlose. Die Schilderung eines einst vertrauten, nun toten Gasthauses („Gambrinus“) steht ebenso für Heimatverlust. In dem an Kafka erinnernden Text „Die Rückkehr“ träumt der Ich-Erzähler von der Heimkehr in das vaterlose Elternhaus. „Der Vater ist gänzlich verschwunden, er hat sich wortreich und nichtssagend verabschiedet und davongemacht. Er liegt im Grab der väterlichen Familie.“ Zwei weitere autobiographische Texte hat Schinkel an das Ende seiner Komposition gerückt. In „Fügung“ wird die Zwillingsgeburt seiner Töchter geschildert und in der letzten Erzählung „Verwunschener Ort“ beschreibt der Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend bis zum Jahre 1988. Mit einer schlichten Laudatio auf seine Mutter lässt der Erzähler seinen Band ausklingen: „Die Mutter kommt aus der Küche und lacht. Ich schließe sie in die Arme. Es gibt nur weniges, was einen glücklicher macht.“ Die Schlussgeschichte bildet mit dem Eingangstext „Mantikor und Minotaurus“, der von Isolation und Vereinsamung erzählt, einen kunstvollen und kontrastreichen Rahmen für den gediegenen Prosaband.
Schinkels spätes Prosadebüt, das unbedingt einen festen Einband verdient hätte, besticht gleichermaßen durch seine Text- und Themenvielfalt. Oft sind die modern dargebotenen Prosatexte im mitteldeutschen Gebiet verortet und in der Gegenwart angesiedelt. Genauso souverän blickt der Archäologe mit hohem moralischen und ästhetischen Anspruch auf die Mythen der Menschheit zurück.

André Schinkel: Das Licht auf der Mauer. Erzählungen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, 160 Seiten, 12,95 Euro.