von Siegfried Suckut
Kaum ein Kapitel jüngerer deutscher Vergangenheit ist mittlerweile so gut erforscht und dokumentiert wie die Geschichte der DDR. Dennoch sind weiße Flecken geblieben, die sich auch durch hartnäckige Recherche nicht beseitigen lassen. Aufklärung erhofften sich historisch Interessierte nach Öffnung der Archive über die Autoren des mysteriösen „Spiegel-Manifests“, das um die Jahreswende 1977/78 die Öffentlichkeit in West und Ost in Aufregung versetzt hatte. Selbst der Bundestag stritt im Januar 1978 darüber: Ein „Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ (BDKD), angeblich Funktionäre der SED, übte scharfe Kritik an der politischen Führung der DDR, titulierte sie als Schmarotzer, Arschkriecher, Speichellecker. Die Autoren mahnten ihre Landsleute, Protest sei erste Bürgerpflicht, und ermunterten zu offenem Widerstand: „Propagiert und organisiert!“ Der Endredakteur des Aufrufes, Hermann von Berg, charakterisierte ihn in seltenem Einklang mit Honecker als „Pamphlet“. Als Entwurf eines „pluralistischen Kommunismus“ blieb er blass.
Die Autoren setzten auf die grundstürzenden Wirkungen einer raschen Wiedervereinigung und glaubten, der wirtschaftliche Nachholbedarf im Osten werde dann eine anhaltende Hochkonjunktur auslösen. Trotz solcher Identifikationsangebote blieb das Manifest in der DDR-Bevölkerung ohne nachhaltige Resonanz. Auch nach der Vereinigung wollte sich niemand als Mitglied des BDKD und (Mit-)Verfasser zu erkennen geben. Selbst Hermann von Berg, der dem Spiegel-Korrespondenten Ulrich Schwarz den Wortlaut in die Feder diktiert hatte, legte Wert auf die Klarstellung, dass er die Öffentlichkeitsarbeit des Bundes übernommen, aber nicht Mitglied gewesen sei. Der Potsdamer Historiker Christoph Kleßmann folgerte 1991, das Manifest sei eine „Fälschung, von welcher Seite auch immer“ und riet unausgesprochen davon ab, sich weiter damit zu befassen. Sein späterer Bonner Fachkollege Dominik Geppert ignorierte diesen Rat, kam aber 1996 zu einem ähnlichen Ergebnis: Ein BDKD in der DDR habe „nie existiert“. Offen ließ er die Frage, wer dann den Aufruf verfasst hatte.
Durch Zufall stieß der Autor dieses Beitrages vor wenigen Jahren bei der Durchsicht ungeordneter Stasi-Unterlagen auf ein Papier, bei dem es sich offensichtlich um die Vorfassung des Manifests handelte. Den Wortlaut der Archivalie fand man in vollem Umfang in der Spiegel-Veröffentlichung wieder, nur wenige Passagen waren offenbar zum Schluss von Hermann von Berg noch ergänzt worden. Auffällig sind fehlerhafte Abkürzungen: NÖSPEL statt NÖSPL und die DDR-untypische für den Trabant: Trabby statt Trabi. Der ehemalige Ökonomie-Professor von Berg, lachte laut auf, als der Verfasser ihn auf die Fehler aufmerksam machte: Nein, das Papier konnte nicht von ihm stammen. Solche Fehler konnten eigentlich nur einem DDR-Unkundigen unterlaufen. Wer hatte es geschrieben?
Klärungsversuche liefen ins Leere oder warfen neue Fragen auf: Seine Unterlagen hatte von Berg sogleich vernichtet, wo das Hektographiergerät gestanden hatte und wie viele Exemplare angefertigt worden waren, konnte er nicht mehr sagen. Unmittelbar nach der Publikation im Spiegel hatte Wolf Biermann den Autoren geraten, anonym zu bleiben. Von Berg ergänzte nach der Vereinigung, die Verfasser des Papiers hätten seinerzeit vereinbart, sich auch zukünftig nicht zu erkennen zu geben. Ulrich Schwarz hatte gleich nach der Publikation betont, der Spiegel wisse sehr genau, wer die Verfasser seien, musste das jetzt aber auf Nachfrage dementieren.
Ungeklärt bleiben unterschiedliche Angaben zum Umfang. Der Spiegel sprach von 30 Schreibmaschinenseiten, das Papier in den Stasi-Unterlagen aber hatte, da einzeilig geschrieben, nur einen Umfang von 13. Sollte das Layout wirklich so verändert worden sein, dass 30 Seiten daraus wurden? Sehr unwahrscheinlich.
Schwarz war sich sicher, seine Mitschrift später an die Dokumentation des Spiegels gegeben zu haben. Dort liegen aber keine Unterlagen zum Manifest vor.
Noch verwirrender gestaltete sich die Quellenlage, als der Verfasser auf eine weitere Stasi-Unterlage stieß. Im Januar 1978 hatte jemand unter dem Pseudonym Paul Dimitrij Ohlrich aus dem westfälischen Beckum eine handschriftliche Mitteilung an Honecker gesandt. Er möge das Maifest doch humorvoll zur Kenntnis nehmen und nicht unglücklich darüber sein, auch in der westlichen Hemisphäre gebe es Systemfehler. Der Verfasser habe ihn nicht verletzen wollen. Trug der anonyme Absender dem Interesse der Bundesregierung Rechnung, die innerdeutschen Beziehungen nicht nachhaltig zu belasten? Kommunizierten so Geheimdienste miteinander? Der Verfasser dieses Beitrages fragte beim BND nach, ob dort der Brief bekannt sei und über welche Erkenntnisse zur Entstehung des Manifests der Dienst generell verfüge. Die erste Frage wurde verneint, zur Beantwortung der zweiten der offene Teil einer mehrbändigen Akte vorgelegt. Er enthält eine Sammlung zeitgenössischer Medienberichte. In acht Jahren, wenn auch die übrigen Teile deklassifiziert sein werden, könnte man mehr erfahren.
Dass der Bundesnachrichtendienst das Manifest verfasst hat, wie die Stasi sogleich behauptet hatte, ist unwahrscheinlich. Er hätte dann ungestraft eine gegen das explizite Interesse der Bundesregierung gerichtete Neben-Deutschlandpolitik betrieben. Wahrscheinlicher ist, dass der BND die Entstehungsgeschichte des Manifests kannte, auch die Regierung informierte, aber nicht selbst aktiv wurde.
Für Wolfgang Harich war die Autorenschaft keine Frage: Nach Stil und Inhalt sei das Wolf Biermann gewesen. Dem ist der unten genannte Aufsatz* bekannt. Er schweigt – bisher.
Aufschlussreicher als die zugänglichen Unterlagen des BND sind die der Bundesregierung, die jüngst ans Bundesarchiv Koblenz weitergeleitet wurden. Nachzulesen ist dort, dass, ähnlich den Vermutungen mancher westlicher Journalisten, gemutmaßt wurde, der Spiegel könnte (Mit-)Verfasser des Manifests gewesen sein, in der Absicht, Honecker noch mehr „zum Wackeln“ zu bringen, so ein britischer Korrespondent. Ein Ziel, das nicht abwegig gewesen wäre. Nach den politischen Turbulenzen um die Ausbürgerung Biermanns, die Verhaftung Bahros und die „Kaffeekrise“ im Herbst 1977 war die Autorität der Staatsführung erschüttert. Der Aufruf zum offenen politischen Protest hätte durchaus eine positive Resonanz haben können. Dass sie ausblieb, belegt, wie sehr der Lernschock nach dem 17. Juni 1953 in der Bevölkerung noch wirkte: Gegen die Sowjets, die Machtgaranten im Lande, hatte kein ziviles Aufbegehren Aussicht auf Erfolg. Das änderte sich erst ein Jahrzehnt später mit dem Beginn einer neuen Deutschlandpolitik der KPdSU.
Versucht man, eine Zwischenbilanz nach dem aktuellen Recherchestand zu ziehen, so spricht noch mehr als bisher dafür, dass es sich beim Manifest um ein Papier westlichen Ursprungs handelt.
Beweise für die Existenz einer organisierten SED-internen Opposition fehlen. Daraus gleich schließen zu wollen, dass die Loyalität der Parteimitglieder nicht infrage stand, wäre dennoch vorschnell geurteilt. Gerade in den Stasi-Unterlagen stößt man auf eine Vielzahl von (zumeist anonymen) Zuschriften an Honecker, in denen Genossen drastisch schildern, wie prekär speziell die Wirtschaftslage war, und Reformen anmahnen. Vieles klingt wie die Beschwerden der Parteilosen. Oppositionelles Denken an der Parteibasis zu analysieren, würde vermutlich zu aufschlussreichen, mitunter überraschenden Ergebnissen führen.
Dr. Siegfried Suckut, Jahrgang 1945, Politikwissenschaftler, war von 1997-2005 Leiter der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Akten-Behörde. Er lebt in Berlin.
* – Dieser Beitrag ist das Resümee einer umfangreicheren Publikation des Autors: „Neues zum ‚Spiegel-Manifest‘ von 1977/78. Zwei Stasi-Dokumente werfen Fragen auf“, erschienen in Ulrich Mählert / Jörg Baberowski (Herausgeber): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2015, Metropol-Verlag, Berlin 2015.
Schlagwörter: DDR, Opposition, Siegfried Suckut, Spiegel-Manifest