von Martin Grobe
„Willkommen in der DDR, lieber Louis Armstrong, willkommen nicht nur im Namen der glücklichen 18.000 Berliner, die eine Karte für eines der sechs Konzerte im Friedrichstadtpalast besitzen, sondern auch im Namen aller, die Satchmo als den ‚König des Jazz‘ und Kämpfer für die Gleichberechtigung der Farbigen in den USA verehren“, so schrieb die damalige Gewerkschaftszeitung Tribüne am 20. März 1965. Auch das ‚Neue Deutschland‘ feierte das kulturelle Ereignis und Armstrong als Vertreter des guten Amerika. Dass dieser ein paar Tage später bei einem Besuch der Berliner Mauer von „grausamer Härte“ sprach und dass die Staatliche Künstleragentur die Musiker aus Übersee vorrangig mit Zeiss-Jena-Optikprodukten bezahlte, davon stand allerdings nichts in den Zeitungen.
Den ostdeutschen Jazzfreunden war das jedoch egal, mit der DDR-Tournee ging ein Wunschtraum in Erfüllung. Louis Armstrong, der weltberühmte Jazztrompeter und -sänger machte mit seinen „All Stars“ und einer Sängerin auf einer Welttournee im Frühjahr 1965 auch Station zwischen Oder und Elbe. Neben seinen Konzerten im Berliner Friedrichstadtpalast gab es noch umjubelte Auftritte in Erfurt, Magdeburg und am 24. März in der Messehalle 3 in Leipzig. Schon Wochen vorher waren die Karten ausverkauft, doch als 18-Jähriger gehörte ich zu den Glücklichen, die eine Eintrittskarte ergattert hatten – wenn auch nur im weit abgelegenen Block J. Aber 25,00 MDN waren für einen Studenten kein Pappenstiel.
Louis Armstrong und seine „All Stars“ spielten vorwiegend die weltberühmten Titel des Old-Time-Jazz im New-Orleans-Stil. Mit seiner unverkennbaren sympathischen, rauen Stimme brachte er jedoch auch andere Musikstücke dem begeisterten Publikum zu Gehör. Die „Satchmo-Satchmo“-Rufe in der weiten und bis auf den letzten Platz gefüllten Halle sind mir unvergesslich. „St. Louis Blues“, „Blueberry Hill“, „What A Wonderful World“ und „When The Saints Go Marching In“ von Armstrong dargeboten, das war ein Erlebnis. Seine Trompete war wie ein Tauchsieder: Wenn er sie intonierte, fing jenes sofort an zu kochen. Die Leipziger applaudierten aber auch rasend, wenn der König des Jazz ans Mikrofon trat und zum Beispiel den Brecht-Weill-Song „Mackie Messer“ sang. Dann wurde es mucksmäuschenstill.
Nicht minder brandete der Beifall auf, wenn einer seiner fünf männlichen „Stars“ – Tyrell Glenn, der Dreizentnermann mit der Posaune, Arvell Shaw mit dem Bass, Edward Shulmann, der beinahe schüchtern wirkende Klarinettist, sowie Daniel Barcelona am Schlagzeug und der Pianist William Kyle – oder die attraktive Sängerin Jewel Brown, der singende Smaragd und akustische Kontrapunkt zu Satchmos Reibeisenstimme, ein leidenschaftliches Solo gaben. Schließlich assistierte das hingerissene Publikum den sieben Künstlern, als es bei Armstrongs erfolgreichstem Schlager „Hallo Dolly“ im Rhythmus mitklatschte. Der Titel musste mehrfach wiederholt werden. Selbst mir als eingefleischtem Beatles-Fan wurde klar, warum dieser Titel Wochen zuvor die vier Liverpooler von Platz eins der amerikanischen Charts verdrängt hatte.
Der bekannte Journalist Karlheinz Drechsel hatte ein paar Begrüßungsworte gesprochen, ansonsten gab es keinen (deutschen) Ansager, Satchmo besorgte das selbst – und siehe da, unser dürftiges DDR-Englisch reichte, um den Kontakt zwischen Bühne und Parkett herzustellen. Das Sprachproblem wurde auf „Satchmo-Art“ gelöst, indem er die Musik spielte, die von allen verstanden wurde. Wirklich beeindruckend waren die Vitalität und Intensität von Armstrongs Bühnenauftritt. Doch Satchmo war nicht nur der routinierte Showman auf der Bühne, sondern auch ein großartiger Mensch ohne irgendwelche Starallüren. Er strahlte menschliche Wärme aus. Und sein Wille, bei jeder Vorstellung, das Allerbeste zu bieten, war spürbar. Das Leipziger Messehallen-Publikum dankte es ihm am Konzertende nach zahllosen Zugaben mit einem riesigen Beifallsorkan.
Ein Vierteljahr später beging der „King of Jazz“ seinen 65. Geburtstag. Er wurde am 4. Juli 1900 in den Slums von New Orleans geboren und wuchs unter ärmlichen Verhältnissen auf. Wie er zur Trompete kam, berichtet eine Anekdote, die sich in Florian Illies‘ Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ findet. Demzufolge sei in New Orleans, in der ersten Sekunde des Jahres 1913 ein Schuss durch die dunkle Nacht gehallt. Dann ein zweiter. Die alarmierte Polizei sei herbeigeeilt und habe den Schützen sofort festgenommen. Er hieß Louis Armstrong. „Mit einem gestohlenen Revolver hatte der Zwölfjährige […] das neue Jahr begrüßen wollen. Die Polizei steckt ihn in eine Zelle und schickt ihn schon am frühen Morgen des 1. Januar in eine Besserungsanstalt, das Colored Waifs‘ Home for Boys. Er führt sich dort so wild auf, dass der Leiter der Anstalt, Peter Davis, sich nicht anders zu helfen weiß, als ihm spontan eine Trompete in die Hand zu drücken (eigentlich hat er ihn ohrfeigen wollen). Louis Armstrong aber wird urplötzlich stumm, nimmt das Instrument fast zärtlich entgegen, und seine Finger […] spüren erneut das kalte Metall, doch statt eines Schusses entlockt er der Trompete noch im Zimmer des Direktors erste warme, wilde Töne.“
Später gastierte Louis Armstrong überall auf dem Globus. Es gab kaum einen namhaften Jazz- und Blues-Musiker, mit dem er nicht gespielt hätte. Louis Armstrong, der am 6. Juli 1971 in New York starb, hat mit seinem musikalischen Stil alle nachkommenden Jazz-Trompeter nachhaltig beeinflusst. Durch sein Virtuosität, die Leichtigkeit seiner Improvisation und seine unverwechselbare rauchige Stimme gilt „Mr. Jazz“ bis heute als populärster Jazz-Musiker aller Zeiten.
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