von Ulrich Busch
Finanzminister Yanis Varoufakis ist der zweitmächtigste Mann in Griechenland und einer der umstrittensten Politiker Europas. Grund dafür sind nicht nur seine vielen Interviews und mitunter provozierenden Äußerungen und Gesten vor der Kamera, sondern auch seine als „ketzerisch“ empfundenen Ansichten über Ursachen, Verlauf und Lösungsmöglichkeiten der Eurokrise. Jüngst erschien ein Büchlein, das er zusammen mit zwei Koautoren (Stuart Holland und James K. Galbraith) verfasst hat, worin er einen Vorschlag zur Überwindung der Krise unterbreitet. Den Ausgangspunkt für seine Überlegungen bildet die Feststellung, die Krise in Europa sei Ausdruck dafür, dass das „Euro-Projekt“ an einem Wendepunkt angekommen sei, der sein Scheitern bedeuten könnte. Statt Hoffnungsträger und Stabilitätsanker für die Welt zu sein, ist die Eurozone mittlerweile „ein Ort großer sozialer Not und ein Herd globaler wirtschaftlicher Instabilität“ geworden. Kommt es hier nicht bald zu Korrekturen, steuert Europa unaufhaltsam „auf Zerfall und Zerstörung“ zu. „Auf der Grundlage der bestehenden Institutionen und politischen Strategien kann der Euro keinen Bestand haben.“ – Das sind klare Worte, die wenig Raum für konventionelle Lösungsstrategien lassen. Vielmehr sind hier Alternativen gefragt. Varoufakis macht dafür einen Vorschlag, indem er einen „neuen New Deal“ ins Gespräch bringt, einen „europäischen New Deal“, der innerhalb weniger Monate echte Fortschritte ermöglichen und Europa einer Lösung der Eurokrise näher bringen würde.
Im Einzelnen enthält dieser Vorschlag vier politische Strategien, für jede Teilkrise eine. Die erste betrifft die Bankenkrise, die seit 2008 andauert und nur durch eine echte „Bankenunion“ gelöst werden kann. Dazu wäre es erforderlich, die Rekapitalisierung angeschlagener Banken nicht mehr wie bisher den Haushalten der Staaten zu überlassen, sondern sie dem ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) in Interaktion mit der EZB (Europäische Zentralbank) zu übertragen. Dadurch würde die „tödliche Umarmung“ zwischen Banken und Staaten, die bisher zu beobachten war, aufgelöst und eine schrittweise „Europäisierung“ der Banken eingeleitet.
Die zweite Strategie zielt auf die Reduktion der hohen Verschuldung der Euro-Staaten ab. Dabei wird streng zwischen den Maastricht-konformen Schulden (MKS) und den darüber hinausgehenden Schulden unterschieden. Während die Finanzierung letzterer nach wie vor in der Verantwortung der Staaten bleibt, soll erstere die EZB übernehmen. Da der Zinssatz, den die EZB hierfür berechnet, erheblich niedriger liegt als bisher, würden die Finanzierungskosten der Staaten spürbar sinken. Damit wäre „die europäische Schuldenkrise endgültig vorbei“.
Die dritte Strategie beinhaltet ein investitionsgestütztes Rettungs- und Konvergenzprogramm, den eigentlichen „New Deal“, für die Länder der Peripherie. Während die beiden vorgenannten Strategien auf die Lösung „alter“ Probleme abstellen, geht es hier um die Gestaltung der Zukunft. Es wird vorgeschlagen, dass die Europäische Investitionsbank (EIB) und der Europäische Investitionsfonds (EIF) ein Investitionsprogramm im Umfang von acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone konzipieren. Die bisherige Regelung, wonach 50 Prozent der Kosten die EIB trägt und 50 Prozent die Staaten selbst, soll dahingehend verändert werden, dass letztere nunmehr von der EZB durch Anleihen finanziert werden. Diese werden später durch Erträge aus den Investitionen beglichen. Ziel dieser Strategie ist es, die finanzschwachen Staaten zu entlasten und das akkumulierte Kapital in Investitionen in Staaten der europäischen Peripherie zu lenken. So ließen sich auch Unternehmen fördern, die die Voraussetzungen für eine Kreditvergabe zwar nicht erfüllen, „aber brillante Ideen für neue und innovative Waren und Dienstleistungen haben“.
Als vierte Strategie wird ein „Notprogramm für soziale Solidarität“ vorgeschlagen, womit notleidenden Familien in den Peripheriestaaten Lebensmittel, Energie und Verkehrsleistungen zugeführt werden sollen. Das Programm soll ausschließlich aus Zinsen finanziert werden, die aus den Ungleichgewichten bei den Target-2-Salden im Europäischen System der Zentralbanken auflaufen, aus Gewinnen durch Transaktionen mit Staatsanleihen und aus der Finanzmarktransaktionssteuer. Diese Mittel fließen derzeit den Überschussländern in der EU zu. Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen Strategie würde für mehr „Fairness“ bei der Verteilung der Mittel gesorgt werden, indem sie nun in die Defizitländer fließen würden. Schließlich hätte eine solche Strategie auch eine moralische und symbolische Bedeutung: „Wenn eine Familie einen Scheck über 50 Euro bekommt mit dem Aufdruck ‚von der EU zur Verfügung gestellt‘ und den im Supermarkt anstelle von Geld verwenden kann, werden die Bürger Europas automatisch anfangen, die EU mit anderen Augen zu betrachten.“
Diese Vorschläge und die für ihre Umsetzung sprechenden Argumente lassen keinen Zweifel daran, dass hier ernsthaft und mit ökonomischem Sachverstand versucht wird, Lösungsansätze für eine verfahrene Situation zu finden. Zumindest der dritten und vierten Strategie lässt sich daher einiges abgewinnen. In Brüssel, Berlin, Madrid, Paris und anderswo werden diese Vorschläge aber trotzdem auf taube Ohren stoßen. Nicht etwa, weil sie „falsch“ wären, sondern weil sie aus Griechenland kommen. Sie bringen die Interessen der Schwächsten in der Eurozone zum Ausdruck, nicht aber die der Starken. Und gemeinsame Interessen aller europäischen Volkswirtschaften gibt es kaum. Das kann man bedauern, aber es ist nun mal so.
Die von Yanis Varoufakis am Schluss seines Buches bemühte Analogie mit Alexander dem Großen – einem Griechen, wie man weiß –, der den gordischen Knoten (der Krise) mit einem Hieb durchtrennte und die Krise damit löste, geht insofern fehl, dass Alexander damals die Macht besaß, um so zu verfahren, Varoufakis aber nur „bescheidene Vorschläge“ unterbreiten kann, über deren Annahme oder Ablehnung andere entscheiden, diejenigen nämlich, die heute die Macht haben. Sein Verdienst ist es aber, zumindest die Möglichkeit von Alternativen aufgezeigt und damit den ökonomischen Gestaltungsprozess ein wenig belebt zu haben.
Yanis Varoufakis, Stuart Holland, James K. Galbraith: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise, Verlag A. Kunstmann, München 2015, 64 Seiten, 5 Euro.
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