18. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2015

Erlesenes – Zwischen Bosporus und Schneekoppe

von Wolfgang Brauer

Edmondo De Amicis schrieb eine Reisereportage über die „Königin des Orients“ – fernab von Baedeker-Anwandlungen und „Liebe-Leser-ich-weiß-was“-Allüren. Sein Buch „Constantinopoli“ ist die Liebeserklärung eines jungen Mannes an eine Schöne, die ihm bei der ersten Begegnung so den Atem raubte, dass er ihr unrettbar verfiel. „Die Ankunft“ ist dieses Kapitel überschrieben: für die meisten Reisenden unwiederholbar. Es sei denn, man näherte sich der „Hauptstadt der Welt“ – mit diesem Attribut versah der Verlag die deutsche Übersetzung – mit einem der behäbigen Dampfschiffe der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Erstausgabe des Buches erschien 1878 als 700 Seiten umfassender Folio-Band. Der Autor war gerade 32 Jahre alt und stand erst am Anfang seines schriftstellerischen Ruhmes. Außerhalb Italiens dürfte er heute nur noch wenigen vertraut sein. Das ist schade. „Constantinopoli“ gehört zu den Klassikern der Reiseliteratur. Annette Kopetzki wählte aus diesem dickleibigen Wälzer eindrucksvolle Passagen aus und schuf eine adäquate Neuübersetzung, die – versehen mit historischen Fotografien der Stadt aus den Jahrzehnten vor 1900 – nun im Quartformat vorliegt. Ein seltenes Zeugnis hoher Buchkultur!
De Amicis machte das, was man jedem Reisenden empfehlen sollte: Er tauchte ein in die Metropole beiderseits des Goldenen Horns und ließ sich treiben. Durch den Großen Basar, die Hagia Sophia, die Süleymaniye-Moschee des großen Architekten Sinan – für den war die „Süleymaniye“ nur das „Gesellenstück“ –, über die Galatabrücke, die das Goldene Horn überquert. Er durchstreifte Galata und Pera, Skutari (auf der asiatischen Seite) und natürlich Stambul ober- und unterirdisch: Seine Beschreibung der Zisternen ist eine journalistische Perle!
Edmondo De Amicis lässt den Leser den Rausch miterleben, der ihn erfasste, als er das erste Mal die Galatabrücke betrat und sich den hin und her wogenden Menschenströmen ausgesetzt sah: „Ein schillerndes Mosaik aus Rassen und Religionen, das fortwährend zerfällt, um sich sofort wieder neue zusammenzusetzen, so schnell, dass man mit den Augen kaum folgen kann.“ Also kaprizierte er sich auf die Beschreibung der Schuhe, denn „sämtliche Schuhe der Welt gehen vorüber, von Adams nackten Sohlen bis zu den Stiefelchen nach der neuesten Pariser Mode […]“ – das ist nicht die Ironie der „Harz-Reise“ Heines, der durch das Fenster des Universitätskarzers nur die Füße der Göttingerinnen erhaschen konnte. Das ist auch der verzweifelte Versuch, dieser Stadt schreibend beizukommen: „[…] verblüfft über die immense Weite, schlurfe ich mit meinen zerknautschten Babuschen und meinem angeschlagenen Schreiberstolz voran, und mir scheint, als verschmölzen alle Moscheen miteinander […]“. De Amicis hatte versucht, wenigstens die wichtigsten Moscheen der Hauptstadt des Osmanischen Reiches zu besuchen – heutige Besucher Istanbuls werden von ihren „Guides“ meist nur mit der Hagia Sophia (die der Autor noch als Moschee erlebte) und der Sultan-Ahmed-Moschee, der „Blauen Moschee“, konfrontiert und sehen anschließend auch nur noch Fliesen …
Allerdings: Nichts wäre falscher, als De Amicis einen realitätsverkleisternden Blick zu unterstellen. Er sah unter der perlenbestickten Schürze den zerschlissenen Rock der Schönen. So bemerkt er über den damaligen Vorort Piri-Pascha am östlichen Ufer des Goldenen Horns, dass man erstaune, wie „dieses Durcheinander ärmlicher hässlicher Dinge eine so schöne Illusion erzeugen konnte“. Er meint den Anblick des Ortes vom Wasser aus. Heute ist Piri-Pascha weitgehend dem Irrsinn eines „autogerechten“ Istanbuls und dem zum Opfer gefallen, was wir in Westeuropa beschönigend „Gentrifizierung“ nennen. Der Autor ließ sich nicht täuschen: „Ist das erste Erstaunen abgeklungen, verblassen die festlichen Farben: keine große höfische Prozession zieht mehr an uns vorüber, nein es ist die gesamte Menschheit mit all ihrem Elend, mit all ihren Torheiten, mit der unendlichen Zwietracht ihrer Glaubensrichtungen und Gesetze; es ist ein Pilgerzug verwahrloster Völker und erniedrigter Rassen; […]; ein Haufen grauenhafter Konflikte, die mit Blut niedergeschrieben wurden und sich nur mit Strömen von Blut werden lösen lassen.“ Angesichts der heutigen Konflikte in den Regionen, die einmal von Konstantinopel regiert wurden, stockte mir beim Lesen mehr als einmal der Atem.
Überhaupt, wer in tiefer Liebe entbrannt ist, empfindet desto schmerzvoller deren Gefährdungen. „Wie wird diese Stadt in einem oder zwei Jahrhunderten aussehen?“, fragt De Amicis. „Ich sehe es vor mir, dieses zukünftige Konstantinopel, dieses London des Orients, dessen bedrohliche, traurige Majestät sich auf den Ruinen der anmutigsten Stadt der Welt erhebt. Die Hügel werden eingeebnet sein, die Wäldchen abgeholzt, die bunten Häuser abgerissen; […].“ Woher wusste er das?
Aber Edmondo De Amicis überfällt beim Abschied von dieser aufregendsten Stadt zweier Kontinente, bei der Fahrt durch den Bosporus noch eine andere Vision: Alle Ansiedlungen dort hätten sich zu einer „einzigen wunderbaren Stadt vereint, zehnmal größer als Konstantinopel, von allen Völkern der Erde bewohnt, mit allen Gaben Gottes beschenkt und ein immerwährendes Fest feiernd, das unsere Herzen mit Trauer und Neid erfüllt“. Alle, die das Glück hatten, die Schöne am Bosporus wirklich erleben zu dürfen, werden diesen Traum verstehen und teilen. Orhan Pamuk urteilte, dass Edmondo De Amicis Bericht „das schönste Buch über das alte Istanbul“ sei. Dem ist nicht zu widersprechen.
Edmondo De Amicis: Istanbul, Hauptstadt der Welt, Corso Verlag, Wiesbaden 2014, 192 Seiten, 39,90 Euro.

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„Terra incognita“, das unbekannte Land, hat Hans-Dieter Rutsch ein Kapitel seines Buches über Schlesien und die Deutschen übertitelt. Unbekannt ist diese vom zweiten Friedrich der Maria Theresia 1742 geraubte und „dem Reich“ in der Folge des Zweiten Weltkrieges verloren gegangene Provinz inzwischen den meisten Deutschen in Ost wie West tatsächlich. Schlesien ist uns allenfalls noch ein historischer Begriff. Das heute polnische Śląsk scheint fremder als die gern zitierten „böhmischen Dörfer“ zu sein – vom „Sehnsuchtstourismus“, wie man in Polen sagt, abgesehen. Rutsch konstatiert das mit Bitternis und schiebt diesen historischen Gedächtnisverlust auf den „Übereifer, aus den deutschen Raubzügen und Verbrechen der Jahre 1939 bis 1945 etwas zu lernen“. „Übereifer“ scheint mir fehl am Platze zu sein. Sehen wir einmal davon ab, dass für die meisten Nachkriegs-Deutschen der Verlust der östlichen Provinzen der stillschweigend akzeptierte Preis deutscher Schandtaten gewesen sein mag – die „schlesischen Angelegenheiten“ waren trotz des „Oder-Neiße-Friedensabkommens“ zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, trotz der „Neuen Ostpolitik“ Willy Brandts und seiner Nachfolger bis zum „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ noch allemal eine schwärende Wunde. Erst das endgültige – von den Siegermächten erzwungene – Akzeptieren der Nachkriegsrealitäten durch Deutschland im Jahre 1990 führte zu einem rasanten Normalisierungsprozess im Umgang der heutigen Schlesier – deren Familien zum größten Teil auch ein bitteres Vertreibungsschicksal erlitten hatten – mit der deutschen Geschichte ihrer Heimat.
Hans-Dieter Rutsch beschreibt liebevoll und kenntnisreich die enge Verwobenheit schlesischer Kulturgeschichte mit der deutschen insgesamt. Da war entschieden mehr als „nur“ Gerhart Hauptmann und die Bunzlauer Keramik. Der Autor lässt uns auf den Spuren Caspar David Friedrichs das Riesengebirge durchwandern, philosophiert über eine mögliche Wendung, die die deutsche Literaturgeschichte im Jahre 1790 beinahe genommen hätte: In jenem Jahr hielt Johann Wolfgang Goethe in Breslau um die Hand der 21-jährigen Henriette von Lüttwitz an. Die war ihm wohl mehr als nur zugeneigt. Die Liebe scheiterte am Standesdünkel der Lüttwitz’schen Familie. Goethe blieb im Provinzkaff Weimar hängen …
Der Autor erzählt vom Wachsen und beinahe Vergehen einer grandiosen Kulturlandschaft. Er erzählt berührende Geschichten vom Bewahren fast verlorener Bauten, die Geschichte von Schloss Lomnitz etwa, und er lässt uns verstehen, weshalb heute junge Polen in Wrocław oder Opole dem Reisenden mit großer Selbstverständlichkeit erklären, dass sie sich zuvörderst als „Ślązacy“ (Schlesier) betrachten. Rutsch hat ein wichtiges Buch geschrieben.
Hans-Dieter Rutsch: Das preußische Arkadien. Schlesien und die Deutschen, Rowohlt Berlin, Berlin 2014, 295 Seiten, 19,95 Euro.