von Jürgen Holtz
Die Jury der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste hat mir den Konrad-Wolf-Preis 2014 zuerkannt. Eigentlich hatte ich vor, einfach Danke zu sagen, aber ich habe mich anders entschieden.
Der Konrad-Wolf-Preis, 1986 in der DDR gestiftet, ist ein politischer Preis, schon deshalb, weil seine Anfangsprämisse mit heutigen Realitäten, Wünschen und Kämpfen nicht oder nur teilweise übereinstimmen kann. Auch aus diesem Grund ist meine Rede, wie auch aus Dankbarkeit gegenüber Konrad Wolf, so politisch wie nötig.
Als ich die Nachricht erhielt, dass der Preis in diesem Jahr an mich geht, war ich zuerst betäubt. Ich tauchte in alte Zeiten zurück. Nach der Erstaufführung von Heiner Müllers „Auftrag“ 1980 sollte ich den Hans-Otto-Preis bekommen. Ich bekam ihn erst ein Jahr später, weil ich mit Heiner Müller Herrn Pleitgen, damals Korrespondent des WDR in der DDR, ein Interview gegeben hatte. Der damalige Präsident des Theaterverbandes, Professor Wolfgang Heinz, überreichte mir den Preis dann mit böser Miene, so als kennten wir uns nicht; und gab mir auch nicht die Hand.
1957, nach zwei Anfängerjahren in Erfurt, in denen ich den Glauben an mein Talent und meine „theatralische Sendung“ fast verlor, lud mich Konrad Wolf zu Probeaufnahmen für seinen „Sonnensucher“-Film in die Babelsberger Studios ein. Er ließ mich spielen und ermunterte mich auf eine so leise und freundliche Weise, dass ich meinen Glauben an Talent und „Sendung“ zurückgewann. Er nahm mich dann doch nicht. Aber das spielte für mein zurückgewonnenes Selbstvertrauen, mit dem ich dann an anderen Bühnen vorsprach, keine Rolle. Ich gewann den Mut des Aufbruchs durch ihn zurück! Heute bekomme ich den nach ihm benannten Preis und ehre den Mann zugleich, der mir meine Hoffnung zurückgegeben hat.
Vor wenig Tagen feierten wir den 25. Jahrestag des Mauerfalls. Ich tauchte wieder in die Erinnerung hinunter und nahm im Galopp die Jahre des Anfangs 1945, die Zeiten meiner Hoffnung und Rückschläge, der Verbote und der schließlichen Aussichtslosigkeit, meine letzte Ausreise über die Bornholmer Straße in den öden Wedding, den tränenreichen Abend des unerwarteten Mauerfalls, das Treffen mit meiner Tochter am Brandenburger Tor am nächsten Tag, die Jahre des Streits um die zu oft beschworene Wiedervereinigung. Und ich feierte den Jahrestag nicht. Ich weinte wieder, wie vor 25 Jahren, und ich konnte nicht feiern, was wir doch so herrlich weit gebracht hatten. Meine Freude darüber, dass wir wieder zu allen Völkern gehören, ist so untrennbar mit meiner Erinnerung verbunden, dass ich nichts von beidem schwärzen kann. Und das Leben geht weiter und ich habe mich ihm zu stellen, solange ich lebe. Und nichts von dem, was wir sagen, meinen oder tun, verschwindet, sondern wir geben es weiter! Für die, die jetzt in der zweiten und dritten Generation nach mir kommen, ist alles, was in mir tief eingeschnitten ist, Geschichte, Blech oder gar nichts, Abfall, Spam. Wenn ich frage, was zu tun ist, fällt mir nur ein, dass ich mich nicht loskaufe, dass ich Verantwortung übernehme. Das sind die Gründe, warum ich mich über den Konrad-Wolf- Preis freue, warum ich ihn gern entgegennehme, und warum ich mich an Sie wende.
Ich habe in den letzten Jahren viel von Politik, Kriegen, Zerstörungen, Ignoranz, Dummheit, Lügen, Unverständnis und Versagen gehört, gesehen und gelesen. Es war mir nicht möglich, das, was ich las, sah und hörte, auf einen Nenner – von Verstehbarkeit oder Übereinstimmung – zu bringen. Vertrauen in die Welt und ihre Regierungen haben sie mir nicht gebracht, sondern sehr prinzipielles Unverständnis.
Die Kultur, ihre Einrichtungen und Aktivitäten leiden unter mangelnder Sicherheit, äußerer und innerer. Kunstaktivitäten und Kunstqualität leiden unter vielen Beeinträchtigungen. Die wichtigsten sind Mangel an Zeit und Mangel an Geld. Die sind austauschbar und sind dasselbe. Sensationen sind, zurzeit – und schon eine Weile –dafür gefragt und hoch in Mode. Ich hätte als Theatertier, das ich bin, mehr für meine Kunst tun wollen, als ich habe tun können. Umstände verhinderten dies in zwei Theater-Zeiten und -Orten meines Lebens.
In meiner ersten Theaterzeit, am Theaterort DDR, in deren ästhetische und ethische Auffassungen ich hineingewachsen bin und hineinverwickelt wurde, kämpften zwei Grundpositionen gegeneinander, die Brecht’sche, die, als Fortsetzung deutscher Theatergeschichte seit Lessing, die Politisierung der Kunst gegen die Ästhetisierung der Politik setzte, die die Nazizeit und den sowjetischen Kulturimport kennzeichneten. Aber die Schule Brechts hat, obwohl sie die schönsten Kunsterfolge an ihre Fahne heftete, von den Kulturbehörden der DDR geschmäht und unterdrückt, den Kampf verloren. Und ich habe, nach 28 Jahren Untersagungen und Verboten, die Aussichtslosigkeit des Unterfangens einsehend, diese Gegend verlassen (1983, im Juni), enttäuscht und unter Zurücklassung von 36 Jahren Hoffnung.
Seit meiner Ankunft in der Bundesrepublik 1983 litt ich dann einige Jahre nicht mehr an dieser politischen Krankheit, die meine Begabung so lange beeinträchtigt hatte. Es waren Jahre mit überwiegend glücklichen Erfahrungen, zuerst mit Schleef, dann mit Eschberg als Ermöglicher.
Seit ein paar Jahren ist die Europäische Union in die Krise gekommen. Die gigantische Aufblähung der Medien-, Kommunikations- und Finanzindustrie und unsere Verstrickung in ihre Belanglosigkeiten wurden sehr vielen von uns bewusst. Etwa zugleich oder schon früher entstand Unglaube an die Künste, Unglaube an die Schönheit und an den gemeinschafts- und gesellschaftsstiftenden Sinn der Kunst.
Museen, Orchester, Schauspiel, Ballett und musikalische Theater sind unter dem Hinweis auf Krisen und Knappheit inzwischen so geschmälert worden, dass sie auf Kante genäht arbeiten. Sie nehmen dies mit Geduld, Scham und Furcht auf sich, Schließungen, Personalabbau, Kostendämpfung.
Das ist das äußere Bild. Es wird gerade darum beschworen. Es wird so oft und heftig beschworen, dass die bohrenden Tatsachen schließlich zu den unumstößlichen Wahrheiten werden. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich nicht wüsste, dass es doch überall genauso sei! Wir hielten uns wohl für Ausnahmen? Gespart würde überall! Zu diesen Feststellungen wird wissend in sich hinein gelacht.
Es ist alles wahr, was gesagt wird. Und ich weiß das wie alle! Aber nur die Tatsachen herbeten, heißt mit ihnen einverstanden sein, heißt sie für unabänderlich halten. Heißt dann, mit deren Apologeten einverstanden sein, die uns die Unabänderlichkeit der Tatsachen einreden. Das heißt die Schippe in die Ecke werfen und schlafen gehen. Was für ein Trost, wenn es den anderen auch so schlecht geht wie uns! Wenn es den Museen, den Universitäten, der Bahn so schlecht geht, wenn es beim Flughafen oder bei der Polizei, der BVG oder dem Ordnungsamt auch nicht besser ist! Die Wahrheit dieser Einreden ist, dass wir uns nach der Decke strecken sollen. Nach der Decke strecken wir uns seit Anfang der neunziger Jahre! Da wurden die Theater in West-Berlin stillgelegt, und es war die Idee eines Kultursenators, alle Theater Berlins bis auf das DT und die Staatsoper zu schließen! Und die sollte der Bund bezahlen!
Tatsächlich arbeiten inzwischen die Museen unterhalb der Möglichkeit ihrer Reproduktion. Tatsächlich arbeiten Ballett- und Schauspielensembles unterhalb der Möglichkeit ihrer Reproduktion. Tatsächlich arbeiten Opernhäuser unterhalb der Möglichkeit ihrer Reproduktion. Alle zusammen unter Bedingungen ihres Verschleißes! Wenn nichts geändert wird. Es wird nichts geändert! Und die Gemeinden schreien, sie sind ruiniert! Sind wir unverschämt, wenn wir um Geld betteln und hören, dass allen, dem Staat, und dem Land Berlin und der Eurozone, schon die Zunge zum Hals heraus hängt? Wer lügt? Wer hat das Geld versteckt, verjuxt, verschenkt? Ich denke, wir wissen es, so ungefähr.
Ich will es deutlich sagen: Wenn von staatlicher Seite, auf der Ebene des Europäischen Union, der EZB, des Euro-Clubs, der Bundesrepublik oder der Länder von Sparen, Einsparen, Sparzwang, Finanzdisziplin die Rede ist, wird noch niemand den Sozialstaat anzutasten wagen, wohl aber die Kulturetats, ob die Filmförderung oder Museen, Theater, Ausstellungen.
Das sind nicht nur ministerielle, sondern Entscheidungen der Parlamente. Und wenn dann der Sozialstaat noch geschützt wird, die Kulturetats nicht mehr, sondern für den Erhalt des Sozialstaates gekürzt werden, ist das keine rechnerische Entscheidung. Sie bedenkt auch nicht, dass der Kulturetat ursächlich zum Sozialstaat gehört. Weil in Wirklichkeit die Allgemeinheit betroffen ist, wenn die Kultur verarmt und genötigt ist, auf Verschleiß zu arbeiten. Oder gehört der Sozialstaat nicht zur Allgemeinheit? Oder die Allgemeinheit nicht zum Sozialstaat? Oder beide nicht zur Kultur?
Die Parlamente und der Staat müssen ihre Ideologie der Versorgung aufgeben. Dann sehen und verstehen sie, dass Kultur und Soziales zwei Seiten derselben Medaille sind, die Allgemeinheit heißt. Sie ist die Waage: Die Allgemeinheit verarmt, wenn die Kultur verarmt, und/oder der Quotenpornografie verfällt!
Die heute mit der Notwendigkeit drohen, die Privatisierung von allem, was Kultur und Kulturauftrag heißt, voran zu treiben, sagen nicht die Wahrheit über den Erfolg ihrer anderen Privatisierungen! Es war keine Erfolgsgeschichte, als man die staatlichen Dienste Post und Bahn aus der Verantwortung des Staates ausgegliedert und privatisiert hat, die Energie- und Wasserversorgung, die Abwasser- und Müllentsorgung, die Sauberhaltung der Stadt, Von der sukzessiven Privatisierung der Gefängnisse, gewisser Dienste der öffentlichen Sicherheit, der privaten Dienste für das Militär und der Geheimdienste will ich nicht reden. Sie sind Erfolgsgeschichten. Man hatte die Gewinne privatisiert und die Lasten den Kommunen aufgehalst! Das ist ruchbar geworden!
Seit der Wende sind es nun die Kunst- und Kulturinstitutionen auch, die der Staat veräußern will, um den Sozialstaat zu retten! Ich frage mich, welchen? Kultur und Kunst haben nach dem Zusammenbruch der Länder des Real Existierenden Sozialismus und dem Ende des Kalten Krieges plötzlich ausgedient und das öffentliche Interesse verloren? Es handelt sich um die Aktivitäten derer, die ein Interesse an Ausverkauf, Privatisierung und Plünderung öffentlichen Gutes haben, um das Interesse von Kriegsgewinnlern! Das sind Landesparlamente und Regierungen, Private, Experten und Kulturideologen, die in der Privatisierung öffentlichen Gutes und des öffentlichen Raums eine, nämlich ihre Zukunft sehen. Und es ist ihnen, sollten unsere Delegierten wieder zur Besinnung kommen und verstehen, was Gemeingut ist, schwer wieder abzunehmen! Die Privatisierungen sind gewinnträchtig und öden das Leben der Allgemeinheit aus!
Wir verhalten uns wie die Schildbürger, die – allzu oft um ihren weisen Rat gefragt, während zu Hause Arbeit, Gut und Familien verkamen – beschlossen, sich dumm zu stellen. Das taten sie. Und da sie klug waren, taten sie es mit Erfolg. Und als sie sich lange genug dumm gestellt hatten, wurden sie es schließlich.
Die Regierung von Nordrhein-Westfalen hat Museumseigentum für 150 Millionen Dollar veräußert, um ihre maroden Spielbanken zu retten, ihre staatlichen Einnahmequellen. Der neue Staatssekretär beim Regierenden Bürgermeister Berlins hat den Vorschlag unterbreitet, Premieren in Handys zu platzieren, wo schon die gelegentliche TV-Verwertung der Theateraufführungen eine höchst problematische Angelegenheit ist. Sie taugen nicht für die Dokumentation, sondern sind ein magerer Abglanz dessen, was Theater ist und kann. Allzu viele Theateraufführungen sind unbefriedigend. Es gibt Leute, die behaupten, das Theater sei tot. Andere sagen, das dramatische Theater sei tot. Das epische Theater hat sich in all seinen Varianten nach Brecht und Müller nicht wirklich entwickelt. Events bringen dem Fortgang oder der Erneuerung der Theaterkunst, dramatisch oder episch, wohl nichts. Sie meinen sich selbst. Das Theater hat sich, sichtbar in seinen, vor allem publikumsignoranten Experimenten, ein wenig festgefressen. Theater und Publikum, und die Kritik, wissen nicht recht, was sie voneinander wollen.
Um meine Rede abzukürzen: Nach der Niederlage des Sowjetblocks, dem Mauerfall, dem Ende des Kalten Krieges, begann die westliche, insbesondere die deutsche als ehemalige Frontkultur zu schwächeln. Ihre Abwehrkräfte ließen nach; es wurde ihr schwer, sich gegen ihren Ausverkauf zur Wehr zu setzen. Unser Leben ist dem Irrationalismus der Zweckpolitik unterworfen, die uns einer neuen Art von Sklavenhaltertum unterwirft, das unser Leben, unsere Sprache, unsere Produktivität dem Machtpoker von verrückt gewordenen Parasiten unterwirft.
Wir können uns nicht ins Bett verkriechen und feige sein. Sind die Menschen mehr als Endverbraucher, die produzieren, um zu konsumieren? Das ist als ein ganzes Menschenleben zu wenig! Und von Leuten erdacht, die außer von ihrem Fetisch Geld nichts verstehen. Und es gibt viele davon!
Unser jetziges Theater in Deutschland hat sich bei seiner Entstehung, vor 130 Jahren, in bestimmter Einseitigkeit entwickelt. Das hat große Erfolge und die eigensinnigsten Talente hervorgebracht. Es war das Theater sozialer Problematiken, sozialpolitischen Engagements und des Theater-Abonnements. Es war das Theater sozialer Problematiken, sozialpolitischen Engagements und des Theater-Abonnements. Es hat sich in diese Einseitigkeit dann auch ver-wickelt. Sie zerstört seine Glaubwürdigkeit, weil es seine Kunst zerstört. Versuche, mit Performances und Events die eigene Glaubwürdigkeit zu retten, sind oft dilettantisch oder der Armut der Theater geschuldet.
Aber das Theater ist nicht tot. Es könnte sein, dass eines Tages Dramaturgien so wie jetzt nicht mehr nötig sind, dass Regie, wie sie jetzt praktiziert wird, nicht mehr gebraucht wird. Das Theater, der Ort der magischen Verlebendigung der Toten und der Worte, ist es wert, neu entdeckt zu werden, neu verstanden und neu strukturiert zu werden. Es entsteht und wird unsere Fehler nicht wiederholen, sondern seine eigenen Fehler machen.
Wir sind taub und gleichgültig gegen die tägliche Sturzflut der Bilder von Raub, Gewalt, Lüge, Betrug, Blut und Mord. Wir sind taub, gleichgültig, immun gegen den Diebstahl unserer Lebenszeit und Wert unseres Lebens, immun gegen schlechte Verwaltung, Privatisierungen öffentlichen Eigentums, öffentlicher Mittel und öffentlichen Raums. Wir stellen uns taub gegen diese Plagen, verhalten uns gleichgültig gegen die uns aufgedrängte Wegwerf-Kultur, deren letztes Abfall-Produkt wir selbst wären. Eigentlich wissen wir, dass das Leben, das wir leben, seinen eigenen, nicht vorhersehbaren, nicht schicksalhaft vorgegebenen und nicht planbaren Weg geht.
Der Schauspieler Jürgen Holtz hielt diese Rede am 19. November 2014 anlässlich der Entgegennahme des Konrad-Wolf-Preises 2014 in der Berliner Akademie der Künste. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Text ist ebenfalls enthalten in Jürgen Holtz: He Geist! Wo geht die Reise hin? Reden. Einreden. Widerreden. Das im Verlag Theater der Zeit erscheinende Buch wird am 22. März im Berliner Ensemble in Anwesenheit von Jürgen Holtz präsentiert.
Schlagwörter: Jürgen Holtz, Konrad-Wolf-Preis