von Achim Katt
In seiner im Bielefelder transcript-Verlag erschienenen Studie „Warum werden Autoren vergessen?“ geht der Chemnitzer Literaturwissenschaftler Christoph Grube am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe der spannenden Frage nach, wie Schriftsteller kanonisiert und dekanonisiert werden. Was der Autor für die Literaturkritik und -geschichtsschreibung untersucht, sollte auf die Geschichte des Verlagswesens, Buchhandels sowie der schulischen und universitären Vermittlung von Literatur ausgedehnt werden. Denn auch hier wird letztlich über (De-)Kanonierungsprozesse mitbestimmt.
Die meisten Autoren freilich bringen es erst gar nicht in den literarischen Kanon, also in das kollektive Gedächtnis. Wer nicht bekannt ist, kann auch nicht vergessen werden. Umso verdienstvoller also, an Literaten zu erinnern, die durch jene Raster der Erinnerung fallen, die Literaturkritik und -geschichte vorgeben. Das Verdienst von Gunnar Müller-Waldeck, Emeritus für Germanistik an der Universität Greifswald, ist es, Literatur-Persönlichkeiten aus Mecklenburg-Vorpommern zu porträtieren.
Das Gros derer, die in seinem Buch gewürdigt werden, sind Dichter, die zum geringen Teil zum Kanon gehören (Fritz Reuter und Ernst Moritz Arndt), zum größten Teil aber spätestens mit dem Tod vergessen wurden. Wer kennt – egal ob in Mecklenburg-Vorpommern oder jenseits seiner Grenzen – noch Autorinnen und Autoren wie Sybilla Schwarz oder Alwine Wuthenow, Johannes Trojan oder Heinrich Seidel? Damit ist gleichzeitig die Leistung der Sammlung benannt: Sie erinnert an den Beitrag, den Mecklenburg-Vorpommern in fünf Jahrhunderten für die Kulturhistorie leistete – auch und gerade dann, wenn hier vor allem Persönlichkeiten aus der zweiten Reihe vorgestellt werden.
Hervorgegangen ist der Band „Der Wilde von den Sandwichinseln“ aus Beiträgen, die Müller-Waldeck für die Ostsee-Zeitung verfasst hat. So erklärt sich, dass die meisten Artikel kurz und bündig gehalten sind, die wichtigsten Angaben zu einer Persönlichkeit und, im besten Fall, noch ein Textbeispiel enthalten. Schon der Blick in das Inhaltsverzeichnis ist ein Indikator dafür, wie reich die Geistes- und Kulturgeschichte jener Landschaft ist, die – obwohl eine wichtige Urlaubsregion – noch immer an dem Erbe trägt, einstmals eine rückständige Provinz gewesen zu sein. Was Bismarck bekanntlich zu dem Bonmot verführte, in Mecklenburg würde selbst der Weltuntergang 100 Jahre später eintreffen.
Dass Gunnar Müller-Waldecks Sammlung so viele Namen verzeichnen kann, liegt nicht zuletzt an den großzügigen Auswahlkriterien: Der Verfasser hat nicht nur gebürtige Nordlichter und Zugezogene aufgenommen, sondern auch Persönlichkeiten, die in Mecklenburg und Vorpommern zu Gast waren und sich im besten Fall auch schriftlich über ihre Aufenthalte geäußert haben. Wie etwa die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt oder Adelbert von Chamisso. Letzterer nannte sich, obwohl exilierter Franzose, gern „Der Wilde von den Sandwichinseln“, was auch den Buchtitel erklärt. Eine spannende Persönlichkeit ist – immer wieder aufs Neue – der 1802 in Bergen auf Rügen geborene Arnold Ruge, der in jungen Jahren ein Weggefährte von Heinrich Heine und Karl Marx und später ein Parteigänger der Politik Otto von Bismarcks sowie ein ebenso vielseitiger wie fleißiger Publizist war.
Beim Text über Ernst Barlach angekommen, wird dem Leser schlagartig bewusst, dass in Müller-Waldecks Zusammenstellung zwei andere bedeutende und ebenfalls mit der Stadt Güstrow eng verbundene Schriftsteller fehlen, auf die man in einer literarischen Länderkunde über Mecklenburg und Vorpommern jedoch nicht hätte verzichten dürfen: John Brinckman und Uwe Johnson, zwei Jubilare des Jahres 2014. Passend zum 200. Geburtstag Brinckmans erschien jüngst im Hinstorff-Verlag Rostock eine detailreiche Bildtextbiografie. Und Frauke Meyer-Gosau, leitende Redakteurin der Zeitschrift „Literaturen“ in Berlin, legte zu Johnsons 80. Geburtstag und 30. Todestag bei C. H. Beck in München eine essayistische Biografie des Autors der „Jahrestage“-Tetralogie vor.
In einem Appendix erwähnt Müller-Waldeck ferner noch einige jener Strategen und Haudegen, die in dem barocken Untertitel des Buches benannt sind. Zu denen gehört neben dem Ingenieur Baltzar von Platen, der den schwedischen Göta-Kanal projektierte, auch Nils Holgersson, der mit den Gänsen von Schweden bis auf die Insel Usedom gezogen ist, beziehungsweise seine geistige Mutter, Selma Lagerlöf.
Drei Anmerkungen dürfen nicht unterschlagen werden, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, oberflächlich gelesen zu haben. Erstens: Die Sammlung hätte ein besseres Lektorat verdient. So ist es an dem Leser, zahllose Flüchtigkeitsfehler anzustreichen. Die hätten leicht vermieden werden können, wenn alle Beteiligten mehr Wert auf das Korrekturlesen gelegt hätten.
Zweitens: Auch die Bildplatzierung lässt erkennen, dass beim Layout zu wenig optisches Feingefühl waltete. Das betrifft auch die Qualität so mancher Abbildungsvorlage. Die Gesichtszüge der wohl vom Verfasser gezeichneten Porträts Arnolt Bronnens und, mehr noch, Bertolt Brechts sind derart entgleist, dass die Illustrationen den Dichtern gewiss nicht zur Ehre gereichen. (Der Kontext: Während Bronnen als Enkel eines Wolgaster Schiffbauers wiederholt in der Peene-Stadt zu Gast war, hätte Bertolt Brecht 1956 die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald erhalten sollen, verstarb aber zuvor.)
Drittens: Im Inhaltsverzeichnis sind die Beiträge in zwei Kapitel unterteilt. In der fortlaufenden Sammlung fehlt die Untergliederung jedoch. Diese Nachlässigkeiten sind bedauerlich, ändern aber nichts an Müller-Waldecks Verdienst, für Mecklenburg-Vorpommern einen ideellen Schatz gehoben zu haben.
Gunnar Müller-Waldeck: Der Wilde von den Sandwichinseln. Unterhaltsames über Dichter, Denker, Strategen und Haudegen in Mecklenburg-Vorpommern, Edition Pommern, Elmenhorst 2014, 232 Seiten, 19,90 Euro.
Schlagwörter: Achim Katt, Gunnar Müller-Waldeck, Literaturgeschichte, Mecklenburg-Vorpommern