von Jochen Mattern
Am 13. November 2014, ein Vierteljahr nach den Landtagswahlen in Sachsen, gab Stanislaw Tillich, alter und neuer Ministerpräsident, eine Regierungserklärung ab. Kurz zuvor hatten sich CDU und SPD auf eine neuerliche Regierungsbildung geeinigt. Beide Parteien waren schon in den Jahren 2004 bis 2009 eine Koalition eigegangen. Tillichs Regierungserklärung stand unter der Überschrift: „Sachsen ist unser Auftrag: mit Kontinuität und Dynamik im Herzen Europas“. Gleich zu Beginn seiner Rede betonte er die Legitimationsbasis seiner Regierungspolitik. Sie verdanke sich der friedlichen Revolution und freien Wahlen.
Im Wortlaut hörte sich das so an: „‚Wir sind das Volk‘ – das war die Losung der Friedlichen Revolution vor 25 Jahren. Heute sind wir hier, weil uns das Volk in freier und geheimer Wahl seine Stimme und sein Vertrauen gegeben hat.“
Dass die sächsische Landespolitik, anders als sie glauben machen will, nur noch eine mangelnde Legitimation in der Bevölkerung aufweist, dafür war die geringe Wahlbeteiligung ein erstes Indiz. Lediglich 49 Prozent der Wahlberechtigten hatten ihre Stimme bei den Landtagswahlen Ende August abgegeben. Jeder zweite Sachse war nicht zur Wahl gegangen. Der Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) ins Landesparlament ist ein weiteres Indiz für das bröckelnde Vertrauen der Bevölkerung in die christdemokratisch dominierte Landespolitik. Mit rund 10 Prozent der Stimmen hatte die AfD, die als Rechtsableger der CDU gelten kann, überraschend gut abgeschnitten. Sie lag nur knapp hinter der SPD und noch vor den Grünen.
Und nun, kaum dass sie die Regierungsgeschäfte aufgenommen haben, erhalten CDU und SPD auch noch massiven außerparlamentarischen Druck. Eine halbe Woche, nachdem der Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung politische Zuversicht verbreitet hatte, versammelten sich erstmals tausende Menschen in der Landeshauptstadt, um ihrerseits den Geist der friedlichen Revolution für sich zu reklamieren. Sie lassen die Montagsdemonstrationen aus der Endzeit der DDR und den Ruf: „Wir sind das Volk!“ wieder aufleben. Im Unterschied zu einer geringen Wahlbeteiligung, die nur am Wahlabend für Aufregung sorgt und danach schnell wieder in Vergessenheit gerät, kann die politische Klasse die öffentlich demonstrierte Unzufriedenheit mit der Landespolitik nicht ignorieren und zur Tagespolitik übergehen, als ob nichts geschehen wäre. Auch die Aufregung über die AfD legt sich rasch wieder. Ihre Einbindung in den parlamentarischen Betrieb, so die Annahme, werde sie alsbald politisch neutralisieren. In den allmontäglich in Dresden stattfindenden Protesten jedoch wird die politische Repräsentations- und Vertrauenskrise manifest. Davon, dass die Demonstrierenden der politischen Klasse die Gefolgschaft aufkündigen, nimmt die ganze Welt Notiz. Von den Volksvertretern fühlen sich die Teilnehmer an den Pegida-Aufmärschen im Stich gelassen. Deshalb erheben sie beispielsweise die Forderung nach Volksabstimmungen in Sachsen.
Auf den tausendfach vorgetragenen öffentlichen Protest muss die Landespolitik reagieren. Nur wie sie das anstellen soll, scheint ihr ein Rätsel zu sein. Denn der Protest, das haben empirische Untersuchungen ergeben, kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Aus ihr rekrutieren CDU und SPD aber ihre Wählerschaft. Es sind diejenigen, die früher einmal als Kleinbürger bezeichnet worden sind. Es sind die vermeintlich Erniedrigten und Beleidigten, die ihren Protest auf die Straße tragen und nicht, wie sonst üblich, an den Stammtischen ausleben. Im „Herzen Europas“, um eine Formulierung des sächsischen Ministerpräsidenten aufzugreifen, scheint sich eine außerparlamentarische Bewegung zu formieren, die sich den abenteuerlichen Namen „Patriotische Europäer gegen eine Islamisierung des Abendlandes“, kurz Pegida, gegeben hat. Inhaltlich bleibt der Protest der „patriotischen Europäer“ vage und diffus, doch ist eine völkische Tendenz klar erkennbar. Eine solche Bewegung, völkisch und außerparlamentarisch, stellt ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik dar.
Den geistigen Nährboden dafür, dass die politische Repräsentationskrise im Modus eines Kulturkampfes, unter dem Deckmantel der Religion, ausgetragen wird, haben die sächsischen Christdemokraten selbst bereitet. Sie betreiben schon seit Jahren eine Leitkulturdebatte, die den Glaubenskämpfern für das christliche Abendland in die Hände spielt. Einige ausgewählte Beispiele mögen das illustrieren:
2004 änderte die damals allein regierende CDU das Schulgesetz für den Freistaat Sachsen. Neu gefasst wurde der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. In den einschlägigen Paragrafen des Schulgesetzes wurde ein expliziter Religionsbezug aufgenommen. Fortan erfüllt die Schule ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag „insbesondere“ dann, wenn sie an „die christliche Tradition im europäischen Kulturkreis“ anknüpft. 2008 wählte der Sächsische Landtag mit der Mehrheit von CDU und SPD den Unionspolitiker Stanislaw Tillich zum Ministerpräsidenten, der zu seinen politischen Vorhaben ausdrücklich die Reaktivierung der wertkonservativen Trias von Heimat, Familie und Glauben zählte. Der sorbische Katholik erschien den strategischen Köpfen in der CDU für die Durchsetzung einer wertkonservativen Politik in Sachsen besonders geeignet zu sein. Eine Audienz beim Oberhaupt der Katholischen Kirche, Papst Benedikt XVI., im April 2012 unterstrich die wertkonservative Ausrichtung der Union unter Führung Tillichs.
Der wertkonservativen Gesinnung fühlt sich auch die AfD verpflichtet. In der Präambel des Wahlprogramms bekräftigt die Partei, dass ihr politisches Handeln von einem „Wertesystem“ bestimmt sei, das „sich aus den Werten des christlichen Abendlandes“ speist. Einer „offen betriebene(n) Herabsetzung und Verhöhnung der Familie“, laut AfD der „natürlichsten aller Gemeinschaften“, werde sich die Partei mit aller Kraft widersetzen.
Politisch korrekter als die beiden konservativen Parteien formulieren die „patriotischen Europäer“, was die religiöse Prägung der deutschen Leitkultur betrifft. In einem Positionspapier vom 10. Dezember 2014 heißt es, Pegida kämpfe „für die Erhaltung und den Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur“. Selbst um den Islam lässt sich das Spektrum der Religionen, die das Abendland prägen, erweitern. Im Kontext der Terrorattentate in Paris erinnert die Kanzlerin wie einst der damalige Bundespräsident Christian Wulff daran, dass „auch der Islam inzwischen zu Deutschland“ gehöre.
Angesichts der jüngsten politischen Vorgänge in Sachsen flammt die Debatte über die Leitkultur und ihre religiöse Prägung in Politik und Öffentlichkeit erneut auf. Der Historiker Gerhard Besier, von 2009 bis 2014 Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag, hält ein solches Gerede für einen „gefährlichen Unsinn“. Es diene allzu oft nur als „eine Waffe im Tageskampf politisch-kultureller Auseinandersetzungen“, schrieb Besier in seinem Aufsatz zur „Diktatur des Relativismus“ im Jahre 2012. Mit dem „Gerede über eine irgendwie religiös geprägte Leitkultur“, so Besier, gefährden Politiker „die Rechtsgleichheit der Bürger, denn sie machen diese abhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit“ Wenn ethnische beziehungsweise religiöse Differenzen zum maßgeblichen Kriterium für die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen erklärt werden, dann wandelt sich das Selbstverständnis der Bürgerschaft eines Landes. Aus rechtlich und politisch gleichen Staatsbürgern, die öffentlich räsonieren und sich dabei den in der Verfassung verankerten Menschen- und Bürgerrechten verpflichtet wissen, werden Volksgenossen, die sich zuallererst einer Kultur zugehörig fühlen. Sie sorgen sich mehr um ihre kulturelle Homogenität und Identität als um die republikanische Gleichheit in der politischen Meinungs- und Willensbildung. Wegen seiner kulturkämpferischen Untertöne klingt der Ruf der „patriotischen Europäer“ „Wir sind das Volk!“ eher wie: „Wir sind ein Volk!“ – auch das ein Erbe der friedlichen Revolution. Zur Res publica, wörtlich die öffentliche Sache, sollen jedoch alle den gleichen Zugang haben, egal welcher kulturellen Herkunft sie sind oder welchem religiösen Glauben sie anhängen. In diesem Sinne ist der politische Diskurs universell, offen für alle; der Streit über die kulturelle und religiöse Identität hingegen ist partikular und selbstbezüglich.
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