von Henryk Goldberg
Das letzte Jahr ist angebrochen. Das letzte Jahr, in dem das Buch „Mein Kampf“ des deutschen Autors Adolf Hitler ein durch das Urheberrechtsgesetz geschütztes Werk ist.
Erst 70 Jahre nach dem Tod eines Autors, so besagt dieses Gesetz, werden die Rechte frei und der Text allgemein verfügbar. Bis dahin halten die Erben alle Rechte, das Recht der Veröffentlichung und das der kommerziellen Verwertung. Der Besitzer der Rechte an diesem Titel ist der Freistaat Bayern, denn der Autor war bis zu seinem Tode in München polizeilich gemeldet.
Ab dem 1. Januar 2016 ist „Mein Kampf“ kein geschützter Titel mehr. Muss man dann die Öffentlichkeit schützen vor diesem Buch?
Jenseits der Frage, ob man das will: Man kann es nicht. Es dauert keine Minute, ich habe es getestet, bis der Text auf dem Computer verfügbar ist, ganz legal. Schon 1979 entschied der Bundesgerichtshof, dass der Besitz und die Verbreitung von „Mein Kampf“ keine strafbare Handlung ist. Jeder kann dieses Buch in einem Antiquariat anbieten, jeder darf es erwerben. Nur drucken darf man es nicht.
Doch ab dem 1. Januar 2016 darf es jeder drucken, dem nicht ein Gesetz seines Landes es verbietet.
Sollte es in Deutschland solch ein Gesetz geben?
Das Münchener Institut für Zeitgeschichte (IFZ) arbeitet an einer kritischen, kommentierten Ausgabe, an deren seriöser Intention kein Zweifel besteht. Bayern wollte dieses Unternehmen zunächst auch finanziell mit einer halben Million Euro unterstützen, dann hat es sich davon distanziert.
Eine wissenschaftlich-kritisch intendierte Edition wird nicht zu verhindern sein – und sollte es auch nicht. „Mein Kampf“ ist so etwas wie die Gründungsurkunde, der genetische Quellcode des Nationalsozialismus und muss der wissenschaftlichen Forschung und Publikation zugänglich sein. Und da der Druck ab 2016 kaum zu verhindern sein wird, auch nicht durch eine eventuelle Klage wegen Volksverhetzung, kann es nur begrüßt werden, wenn sich eine kritische Ausgabe all den anderen, nicht zu vermeidenden in den Weg stellt.
Das Problem, das all die sehen, die sich diesem Unternehmen mit so ehren- wie ernsthaften Argumenten in den Weg stellen, ist wohl nicht, dass jeder diesen Text dann lesen kann, das kann er jetzt auch.
Es ist ein Problem, das aus der deutschen Geschichte kommt, das Problem der Symbole. Es ist diese Symbolpolitik, dieser gleichsam natürliche und gesunde Reflex im Umgang mit Nazideutschland. Das ist verständlich aus der Geschichte, hilfreich für die Gegenwart ist es eher selten. Wenn sich etwas nicht verhindern lässt, das ist pragmatisch gedacht, dann muss man sehen, wie man damit umgehen kann.
Es ist die Vorstellung, dass „Mein Kampf“ nicht nur in seriösen Buchhandlungen in der Abteilung Geschichte ausliegen wird. Es ist der Gedanke, dass jede Bahnhofsbuchhandlung dieses Buch mit großen Buchstaben bewirbt. Dass das Vermächtnis des Massenmörders in Reih und Glied aufmarschiert hinter den Schaufensterscheiben.
Zu sehen, wie eine dumm grinsende Glatze dieses Buch kauft und es demonstrativ durch die Stadt trägt, es offen unterm Arm hat in Buchenwald. Und das, in der Tat, ist eine Vorstellung, die, jenseits aller Rationalität, hochgradig unangenehm ist.
Aber das müssen wir aushalten. Und vielleicht könnte eine solche, eine kritische, auch visuell klar positionierte Edition wenigstens die schmuddeligen Taschenbücher in den Auslagen verdrängen.
In gewisser Weise wurde Deutschland durch das Urheberrechtsgesetz 70 Jahre lang vor der Konfrontation mit dieser Frage geschützt, diese Schonzeit geht zu Ende. Und ein ungefähres Menschenleben nach der Kapitulation, die ich noch immer eine Befreiung nenne, hat dieses Land eine Reife und Stabilität erlangt, die das nicht als Katastrophe erscheinen lässt.
Wenn wir diese lebendigen Kameraden der NPD ertragen müssen, werden wir den toten Hitler wohl ertragen können. Und die Gesichter, die ich bei ihren Aufmärschen sehe, machen mehrheitlich nicht den Eindruck, als könnten sie dicke Bücher ertragen.
Schlagwörter: Adolf Hitler, Henryk Goldberg, Symbolpolitik, Urheberrechtsgesetz