von Niklas Franzen, São Paulo
Brasilien kommt nicht zur Ruhe. Nach den Präsidentschaftswahlen prägt eine extreme Polarisierung weiterhin das politische Klima im größten Land Südamerikas. Rechte Kräfte blasen im Netz und auf der Straße zum Angriff gegen die wiedergewählte Regierung. Am 26. Oktober 2014 war Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT in der Stichwahl gegen Aécio Neves, Kandidat der rechtsliberalen PSDB, im Amt bestätigt worden. In einem der knappsten Wahlergebnisse in der Geschichte des Landes trennten nur 3,4 Millionen Stimmen die beiden Kandidaten.
Bereits im Wahlkampf bekämpften sich die beiden Lager mit einer für Brasilien unüblichen Aggressivität. Wenige Tage vor der Wahl beschuldigte das Wochenmagazin Veja, das wichtigste Sprachrohr der rechten Opposition, Rousseff und Ex-Präsident Lula in großer Aufmachung, „alles“ über einen Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras gewusst zu haben. Der Versuch, das Ruder in letzter Minute noch umzureißen, scheiterte. Vor allem eine loyale Wählerbasis im sozial schwachen Nordosten verhalf Rousseff letztendlich zum knappen Sieg.
Nun entlädt sich der Frust dieser „harten“ Rechten auch auf der Straße. Am 1. November, eine Woche nach der Wahl, demonstrierten zum ersten Mal 2.500 Menschen in São Paulo für die Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff. Ultrarechte Politiker und andere Gruppen hatten zu dem Protest aufgerufen. Zahlreiche Demonstranten forderten dabei auch eine Intervention des Militärs.
Brasilien wurde bereits zwischen 1964 und 1985 von Militärs regiert, doch wegen enger Bande zu großen Teilen des bürgerlichen Lagers spricht man heute meist von einer „militärisch-zivilen Diktatur“. Tausende Oppositionelle mussten in dieser Zeit das Land verlassen, Hunderte wurden ermordet. Die damalige Guerillera und heutige Präsidentin Rousseff wurde tagelang gefoltert.
Von vielen Seiten erntete die „Putsch-Demonstration“ im Nachhinein scharfe Kritik. Auch Politiker der oppositionellen PSDB distanzierten sich überraschend deutlich. Dennoch versammelten sich 14 Tage später über 10.000 Menschen an gleicher Stelle zur zweiten Auflage der Demonstration. Wieder marschierte eine bunte Mischung aus enttäuschten Konservativen, christlichen Homohassern und organisierten Neonazis auf. Journalisten und vermeintliche Linke wurden am Rande der Demonstration tätlich angegriffen. Auch in anderen Städten gingen Hunderte auf die Straße.
Der Rechten gelingt es mit plattem Nationalismus, der Projektion auf das Feindbild PT und einer Kritik am „Verfall der Familie“ verschiedene Gruppen unter ihrer Fahne zu versammeln. Die gemäßigten Reformen der PT werden als Versuch gedeutet, Brasilien in „eine kommunistische Diktatur wie in Kuba und Venezuela“ zu führen. Die Wahlergebnisse werden angezweifelt und als „größter Betrug der Geschichte Brasiliens“ bezeichnet. Für viele sind die Demonstrationen daher lediglich „Aufmärsche von rechten Freaks“.
Der Philosophieprofessor Paulo Arantes warnt vor einer Verharmlosung der Bewegung: „Das sind mit Sicherheit rechte Fanatiker, jedoch zeugen die Proteste von einer Stimmung im Land und sind deshalb leider ernst zu nehmen“. Nicht wenige fürchten einen Flächenbrand. Seit den Massenprotesten, die Brasilien im letzten Jahr förmlich überrollten, zeigt sich diese Rechte auch auf der Straße kampfbereit.
Damals waren Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße gegangen, um gegen die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr zu demonstrieren. In vielen Städten rissen dabei rechte Kräfte das Ruder an sich. „Ich bin mir sicher, dass die Proteste weitergehen und anwachsen werden“, meint Arantes.
Die Regierungslinke präsentiert sich derweil überfordert und versucht die aktuellen Proteste als Aufstand einer weißen Elite abzustempeln. Jedoch haben auch beträchtliche Teile des „neuen Proletariats“, jene Brasilianer also, die dank der Sozialpolitik der PT sozial aufgestiegen sind, ein konservatives Wertesystem.
Die reaktionäre Rechte ist keine einheitliche Bewegung, vielmehr ist sie von Richtungsstreits durchzogen. Der Rockmusiker Lobão, einer der Stars, verließ verärgert die zweite Demonstration in São Paulo, nachdem erneut mehrere Teilnehmer eine Machtübernahme der Streitkräfte forderten. Der Musiker wurde daraufhin vom eigenen Lager als „Kommunist“ und „PT-Wähler“ beschimpft.
Anfang Dezember versammelten sich erneut hunderte Rechte in São Paulo – jedoch liefen die „Radikalen“ und „Gemäßigten“ in getrennten Demonstrationen durch die Straßen der Eliteviertel der Metropole.
Auch am 1. Januar demonstrierten Regierungskritiker zu Rousseffs Amtsantritt vor dem Nationalkongress in der Hauptstadt Brasília und ließen ihren Protest mit 3.000 schwarzen Luftballons in den Himmel steigen. Insgesamt blieb die Teilnehmerzahl des Protests jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Nichtsdestotrotz bleibt diese Rechte auch im neuen Jahr kampfbereit und wird weiterhin alles dafür tun, Rousseff und ihre Arbeiterpartei aus dem Amt zu jagen. Auch wenn ihr Letzteres kaum gelingen dürfte – das gesellschaftliche Klima hat sie bereits nachhaltig vergiftet.
Schlagwörter: Brasilien, Dilma Rousseff, Korruption, Nationalismus, Niklas Franzen, Rechte