von Manfred Orlick
Seit Mitte der 1960er Jahre fühlt sich der Berliner Aufbau Verlag dem Werk des US-amerikanischen Schriftstellers Mark Twain (1835-1910) verpflichtet – damals mit einer dreizehnbändigen Ausgabe. Vor zwei Jahren erschien nun mit „Meine geheime Autobiographie“ ein zweibändiger opulenter Überraschungsbestseller (mit immerhin 1.130 Seiten), denn nach seinem Willen durfte sie erst hundert Jahre nach seinen Tod erscheinen, damit er sich „so frank und frei und schamlos wie ein Liebesbrief äußern könne“. Natürlich wurde Twains Vorgabe mit den hundert Jahren nicht strikt eingehalten. Er selbst publizierte bereits einige Abschnitte aus seiner Autobiografie und seine Erben stimmten zwölf Jahre nach seinem Tod einer teilweisen Veröffentlichung zu. Und auch in der erwähnten Werksausgabe des Aufbau Verlages befand sich ein Band mit „Autobiografischen Schriften“ – zwar nur mit 350 Seiten.
Nach dem ersten Mammutwerk haben der „nette Onkel mit dem Schnauzbart“ und die heutigen amerikanischen Verleger für ihre erstaunten Leser eine weitere Überraschung parat: „Neue Geheimnisse meiner Autobiographie“ – und wieder zwei Bände mit über 1.000 Seiten. Wieder hat der Autor und Humorist Neues und Gewichtiges, aber auch Banales zu erzählen. Es sind keine Gedanken und Anmerkungen, die im stillen Kämmerlein mit der Feder geschrieben wurden, sondern autobiografische Texte, die Twain vom April 1906 bis zum Februar 1907 diktiert hat.
Die Aufzeichnungen folgen keinem chronologischen Prinzip, sondern seinen Erinnerungen und seinem Interesse an Begebenheiten und Ereignissen in seinem bisherigen Leben. Mitunter sind an den Seitenrändern die betreffenden Jahreszahlen angegeben. Trotz des Diktier- und Erzählprinzips ergibt sich eine durchaus fortlaufende Lektüre, die mit Twains Ansichten und weitgefächerten Interessen vertraut macht. Mitunter sind die Aufzeichnungen durch Briefe, Reden und Skizzen ergänzt.
Lange hatte Twain um die richtige Form seiner Autobiografie gerungen, schließlich wollte er mit schonungsloser Offenheit „vom Leder ziehen“ – über gesellschaftliche Themen, Religion, Politik, Technik, Literatur bis hin zu Steuerhinterziehung, Männermode oder Billardspiel. Aber auch ganz persönliche Dinge wie Einsamkeit, Altern oder den Tod seiner geliebten Frau reflektiert Twain. Verwandte, Freunde und seine Ärzte wurden ebenfalls nicht verschont. Und sich selbst bezeichnete er als „eselhaftesten Menschen“. Wie breit die Palette der Themen ist, zeigen ein Anhang mit einem Verzeichnis der behandelten Gegenstände sowie mehrere Register. Der Begleitband „Hintergründe und Zusätze“ vermittelt Erklärungen, die die autobiografischen Diktate dahingehend ergänzen, dass sie Personen, Orte und Ereignisse dem heutigen Leser erläutern. Sie machen aber auch auf Widersprüche in Twains Erinnerungen aufmerksam.
Die „Neuen Geheimnisse meiner Autobiographie“ bringen nach dem furiosen Auftakt vor zwei Jahren wieder eine Fülle von Ansichten und Lebensgeständnissen des großen Humoristen zutage. Wer bisher dachte, nach den Romanen, Reiseschilderungen und Kinderbüchern Mark Twain zu kennen, wird hier eines besseren belehrt.
Mark Twain: Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe – Neue Geheimnisse meiner Autobiographie, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 2 Bände im Schuber, 1.040 Seiten, 49,90 Euro.
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