von Eckhard Mieder
Eine meiner Marotten ist es, Hochstände zu fotografieren. Beim Wandern durch Wälder und über Fluren knipse ich jeden Hochstand, an dem mein Weg vorüberführt. Ich habe Hunderte von Hochstand-Fotos; frage mich bitte niemand, warum und wozu; es verdürbe mir den Spaß. Ich weiß das. Denn als ich mich selbst nach Jahren nach dem Sinn und Zweck der Übung fragte, bekam ich schlechte Laune.
Jeder Bericht, der irgendwie von einem Hochstand handelte, erweckte in mir eine Aufmerksamkeit, die ich sonst allenfalls Texten von Nietzsche widme. Plötzlich wurde aus der Freiluft-Freude schon wieder so etwas wie ein Teil-Ernst des Lebens.
Jemand besteigt einen Hochstand, um dort oben mit Blick über die deutsche Heimat zu verhungern und zu verdursten. Hat’s gegeben.
Jemand sägt an den Beinen eines Hochstandes oder Hochsitzes, um gegen den Mord an Reh und Wildschwein zu protestieren. Gibt’s.
Oder wie wäre es mit dem? „Eine Gruppe Jugendlicher feierte den Mai-Feiertag am Donnerstag am Jägersburger Weiher in Homburg (Saarland). Sechs Teenies krabbelten auf einen Hochsitz, tanzten in luftiger Höhe. Schlechte Idee: Die Holzkonstruktion kippte mit der tanzenden Meute um. DRK-Sprecher Frank Bredel: ‚Im weichen Wiesengelände gab es zum Glück keine schweren Verletzungen. Ein Mädchen kam vorsorglich in die Uni-Klinik.’“ Blöd gelaufen, oder?
Mein Freund Johannes Tütenholz würde, hätte er meine Macke, all diese Geschichten sammeln. Mir wäre es recht; er würde an meiner Stelle depressiv werden. Denn: Es kommt noch ärger, weil die Gestalt vieler Hochstände auf Fotos erscheint:
Etwa steht ein Wachturm auf frisch aufgeschütteter Erde. Die stammt aus dem Graben, auf dessen anderer Seite Stahlkreuze und Beton-Brocken stehen. Die Bildunterschrift behauptet – ich kann es nicht verifizieren: „Hier will Kiew derzeit einen Schutzwall errichten.“
Im Wachturm ist eben noch ein Mensch zu erkennen, der durch einen Feldstecher schaut. Nach Russland? Nach Kiew? Oder hat er eine junge Kosakin entdeckt, die ihre Wäsche wäscht in Don oder Dnjepr und selber nichts weiter am Leibe trägt als Gummistiefel der Marke „Kasatschok“?
Etwa steht ein Wachturm an einem Rest der Berliner Mauer und singt mir grau und stumm das Lied von einem Staat, der seine Wehrhaftigkeit gegen die eigenen Leute richtete. Ein betonierter Hochstand, ein Rest-Bestand, der mir zum 25. Jahrestag des Mauerfalls immerzu vor Augen geführt wird.
Ich frage mich, was ich mich beim Fotografieren meiner Wald-und-Flur-Hochstände nicht fragen will: warum und wozu? Ich habe doch längst begriffen, 25 Jahre sind ein Vierteljahrhundert, dass ich nur ein Kaninchen gewesen war, daamals, daamals …, eingesperrt und gemästet für den Braten-Tiegel auf einem Wandlitzer Kochherd.
Etwa der Wachturm, der links neben dem Gleis am Stacheldrahtzaun steht. Der Blick geht von innen zum „Einfahrtstorhaus“ des Lagers Auschwitz. Ein Wachturm, als wäre er von deutschen Hochstand-Tischlern erbaut. Oder von polnischen Forstarbeitern vor Ort, wer weiß das schon.
Und Tütenholz, das Schlitzohr? Dem ich dann doch von meiner Marotte und den unangenehmen Blicken und Assoziationen ins finstere Tal der menschlichen Seele erzählte? Er sprach zu mir: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Hochstände fast ein Verbrechen ist. / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Hochstand, Mauerfall, Wachtürme