von Renate Hoffmann
Am 29. September 1774 erschien in der Weygandschen Buchhandlung zu Leipzig ein Briefroman: „Die Leiden des jungen Werthers“. Anonym. Geschrieben mit dem Ungestüm eines jungen Mannes, der Johann Wolfgang Goethe hieß, was beizeiten ans Licht kam. – Die Auswirkungen glichen einem Sturzbach der Emotionen. Werther-Sucht, Werther-Mode, Werther-Selbstmorde. Ruhm und Verdammnis eines Buches, welches bisher in 63 Sprachen vorliegt.
Goethe äußerte sich späterhin skeptisch zur Erstausgabe des Werkes. Als der Autor 1779 durch die Schweiz reiste, sprach man ihn allenthalben auf seinen „Werther“ hin an. „Daß man hier von meinem Werther bezaubert ist, hätte ich mir nicht vermutet. Man fragt mich, ob ich mehr dergleichen schriebe und ich sage: Gott möge mich behüten, daß ich nicht wieder in den Fall komme.“ Und er lenkte ein, als die Weygandsche Buchhandlung 1824 eine Jubiläumsausgabe des ‚Werther’ vorbereitete: „Der erste Abdruck in seiner heftigen Unbedingtheit ists eigentlich, der die große Wirkung hervorgebracht hat; ich will die nachfolgenden Ausgaben nicht schelten, aber sie […] haben denn doch nicht jenes frische unmittelbare Leben.“ Dieses unmittelbare Leben fand 1772 in Wetzlar statt.
Zu den Vorgängen: Lizenziat der Rechte Johann Wolfgang Goethe tritt Mitte Mai, auf Drängen seines Vaters, am Reichskammergericht in Wetzlar ein Praktikum an. Am 11. September gleichen Jahres verlässt er die Stadt wieder. Zu seinen Bekanntschaften gehören, neben anderen: Heinrich Adam Buff (1711-1795), Verwalter im Dienst des Deutschen Ordens und Witwer. Charlotte Sophie Henriette, Lotte gerufen (1753-1828), zweitälteste Tochter des Vorgenannten und seiner Frau Magdalena Ernestina Feyler, mit der er sechzehn Kinder hatte. Johann Christian Kestner (1741-1800), hannoverscher Legationssekretär und späterer Ehegatte Lottes. Karl Wilhelm Jerusalem (1747-1772), Legationssekretär der braunschweigischen Gesandtschaft in Wetzlar. In der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1772 versucht der aus verschiedenen persönlichen Gründen einen Selbstmord, verletzt sich dabei schwer und stirbt am 30. Oktober gegen Mittag an den Folgen.
Charakteristika der Personen: Goethe über Kestner: „Er zeichnete sich aus durch ein ruhiges, gleiches Betragen, Klarheit der Ansichten, Bestimmtheit im Handeln und Reden.“ – Kestner über Goethe: „Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Frankfurt an. […] Er hat sehr viele Talente, ist ein wahres Genie und ein Mensch von Charakter, [er] besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft. […] Bei Kindern, bei Frauenzimmern und vielen anderen ist er wohl angeschrieben.“ – Goethe über Lotte: „Sie gehörte zu denen, die, wenn sie nicht heftige Leidenschaften einflößen, doch ein allgemeines Gefallen zu erregen geschaffen sind. Eine leicht aufgebaute, nett gebildete Gestalt, eine reine gesunde Natur und die daraus entspringende frohe Lebenstätigkeit.“ – Jerusalem über Goethe, den er aus Leipzig kannte: „Er war zu unserer Zeit in Leipzig und ein Geck, jetzt ist er noch außerdem ein Frankfurter Zeitungs-Schreiber.“ – Goethe über Jerusalem: „Seine Gestalt gefällig, mittlerer Größe, wohlgebaut; ein mehr rundes als längliches Gesicht; weiche, ruhige Züge, […] blaue Augen sodann, mehr anziehend als sprechend zu nennen. Seine Kleidung war die unter den Niederdeutschen […] hergebrachte (Jerusalem stammte aus Wolfenbüttel – Anmerkung R.H.): blauer Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider, und Stiefeln mit braunen Stolpen.“
Die Dinge nehmen ihren Lauf. Goethe verliebt sich in Lotte, Kestners Verlobte, und bekennt, seine Affäre von Sesenheim noch im Kopf: „Auch dieses Verhältnis war durch Gewohnheit und Nachsicht leidenschaftlicher als billig von meiner Seite geworden.“ Kestner, in Geschäften viel unterwegs, sieht es anfangs nicht ungern, wenn sich Buffs Tochter mit dem jungen Mann, mit Freunden und Freundinnen die Zeit angenehm vertreibt. Lotte besitzt ohnehin nur wenig davon, da sie den Geschwistern in vollem Umfange die Mutter ersetzen muss.
Diese Umgebung, in der „ihre heiterste Luft wehte“, behagt Goethe. Dazu die „schöne ländliche, durch den freundlichen Fluß (die Lahn – Anmerkung R.H.) belebte Landschaft.“ Und so verbringen sie, bald unzertrennlich, zu zweit, zu dritt, den Sommer. „Eine echt deutsche Idylle“, schreibt Goethe im Rückblick, „wozu das fruchtbare Land die Prosa und eine reine Neigung die Poesie hergab.“
Doch die Situation spitzt sich zu. Kestner mahnt den häufigen Gast, er möge sich keinen falschen Hoffnungen hingeben. – Einer von beiden muss weichen. Goethe. Er geht, „nicht ohne Schmerz.“
Dann erreicht ihn das Gerücht von Jerusalems tragischem Ende, auch von Kestners unfreiwilliger Verstrickung in den traurigen Vorfall. Karl Wilhelm Jerusalem hatte am Abend vor dem Unglück Charlottens Verlobten ein „Zettelgen“ überbringen lassen: „Dürfte ich Ew. Wohlgeb. wohl zu einer vorhabenden Reise gehorsamst um ihre Pistolen ersuchen?“ Das „Zettelgen“ ist noch existent! Kestner, nichts ahnend, leistete Folge …
Ebenfalls von ihm erhält Goethe eine präzise Beschreibung vom Ablauf des Geschehens. „ […] und in diesem Augenblick,“ berichtet er, „war der Plan zu ‚Werthern’ gefunden.“ Er schrieb ihn, nach eigener Angabe, in vier Wochen nieder, ohne vorher ein Schema, ohne zwischen Dichtung und Wirklichkeit unterschieden zu haben. – G. fühlt sich im Anschluss daran „wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt.“
Nun wandelt sich der bekannte Personenkreis in überhöhter poetischer Form zum Kreis der Mitwirkenden des Romans. Eingebettet in die romantische Landschaft des Lahntals. Getragen vom Auf-und-Ab der Gefühle. Im Spiegel der Dichtung verändert und doch durchschaubar. – Der unglückselige Jerusalem/Werther stirbt; der glücklichere Werther/Goethe löst sich aus dem Sommererlebnis dichterisch mit einer „Generalbeichte“ und lebt. Und diese liest sich noch ebenso spannend wie vor zweihundertundvierzig Jahren.
Die Goethe-Zitate entstammen überwiegend seinen Aufzeichnungen „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“; Insel-Verlag 1977.
Schlagwörter: Goethe, Renate Hoffmann, Werther