17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Die schwarze Null

von Stephan Wohanka

Die „schwarze Null“ – Synonym für einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung – steht als finanzpolitische Maßnahme für die Identität Merkelscher Politik und droht dabei zum Fetisch zu verkommen. Es sei ein „Prestigeobjekt“ – alles üble Nachreden über ein richtiges, sehr ambitioniertes Projekt? Schließlich gab es seit 45 Jahren keinen ausgeglichenen Bundeshalthalt mehr!
Manchmal sollte man Politkerworten Glauben schenken. So dem Merkels von der „schwäbischen Hausfrau“: „Sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben“; vulgo Schulden machen. So bemerkenswert wie schlicht, stimmt diese Maßgabe sogar nur bedingt für den Bürgerhaushalt; für Staaten ist sie mehr als wirtschaftspolitisch fatal. Zumal Sparen um jeden Preis offenbar zum letzten noch verbliebenen Identitätsmerkmal politisch-konservativer Kreise geworden ist: Haushaltskonsolidierung könne „keine Angelegenheit von schönem Wetter sein, sondern muss gerade auch in etwas schwierigeren Zeiten eingehalten werden“. Dass andere Kräfte diesen Kurs der Haushaltsgestaltung wider besseres Wissens mittragen, ist wohl nur der Koalitionsräson geschuldet, wie immer mehr Stimmen zeigen. Das Ganze also nur (partei)politisches Gezänk? Mitnichten! Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir tatsächlich „besser durch die Krise gekommen sind als andere“, dass „wir die Wirtschaftslokomotive Europas“ seien, wird vergessen, dass unser Land noch vor nur zehn Jahren als „kranker Mann Europas“ galt; mit Folgen bis heute.
Die Fakten: Die deutsche Wirtschaft hatte es bis zum Beginn der globalen Schuldenkrise 2008 nicht geschafft, zur wirtschaftlichen Dynamik Europas aufzuschließen, auch wenn seit 2003 sozial einschneidende Reformen – mit der Agenda 2010 vor allem im Arbeitsmarkt und Sozialsystem – auf den Weg gebracht wurden. Trotz der dann besseren Entwicklung seit 2009 konnte Deutschland sich bis heute nicht von den schwachen 2000er Jahren erholen und den Rückstand aufholen, denn seit 2000 wuchs die deutsche Wirtschaft weniger stark als der Durchschnitt der Eurozone. Auch die Arbeitslöhne sind hierzulande deutlich geringer gestiegen; ja sie haben sich sogar schwächer entwickelt als die Inflation: Zwei von drei Arbeitnehmern haben heute weniger Realeinkommen als im Jahr 2000. Die Armut ist gestiegen, eines von fünf Kindern lebt heute unter der Armutsgrenze. Desgleichen ist die Einkommensungleichheit höher als noch in den 1990er Jahren. Gleiches trifft auf die Vermögensungleichheit zu; sie ist eine der höchsten Europas.
Diese Minderleistungen sind zum großen Teil Resultat einer schwachen Produktivitätsentwicklung. Deren Ursache wiederum liegt in geringen Investitionen, die zu den niedrigsten aller Industrieländer zählen! Anfang der 1990er Jahre wurden hierzulande noch 25 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung investiert, heute sind es nur noch 19,7 Prozent. Der Kapitalstock wichtiger Branchen wie Chemie, Elektrotechnik oder Maschinenbau ist geschrumpft, bis zu 5,4 Prozent. Menschen und Unternehmen sparen zwar recht viel, aber sie sparen schlecht – seit 2000 haben sie Vermögen in Höhe von 15 Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung im Ausland verloren. Fazit: Trotz relativ guter Konjunktur der letzten Jahre mit wieder mehr Beschäftigung und so steigenden Steuereinnahmen sowie hohen Exportüberschüssen befindet sich dieses Land auf einem absteigenden Ast und lebt von seiner Substanz. Viele Menschen fragen sich – wo ist „Vater Staat“? Immer mehr Steuern treibt er ein, was macht er damit? Die „verstopften Schultoiletten“ und „maroden Brücken“ sind die häufig zitierten Bilder dafür…
Genannte Steuereinnahmen und so seit 2012 im Bund erzielte Haushaltsüberschüsse machten aus, dass die Großen Koalition über einen 20 Milliarden Euro zählenden Spielraum verfügte, den sie zum großen Teil als Wahlgeschenke – parteipolitisch „ausgewogen“ – in die Mütterente und die Rente mit 63 steckte; auf obigem Hintergrund eine wirtschaftspolitische Fehlleistung. Auch zukünftig verschlingt dieses Rentenpaket neun bis elf Milliarden Euro jährlich und belastet die Rentenkasse. Es hätte wahrlich gesellschaftlich ausgewogenere Lösungen sowohl für den Abbau der sozialen Ungerechtigkeiten als auch der Finanzierung gegeben, wie beispielsweise die Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und die Steuerfinanzierung…
Jetzt musste die Bundesregierung auch noch ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum deutlich nach unten korrigieren: Für 2014 erwartet sie statt 1,8 Prozent nur noch ein Plus von 1,2 Prozent. Auch 2015 wird schlechter werden als bisher gedacht. Allein noch kein Beinbruch, jedoch weisen auch andere wichtige Kennzahlen wie beispielsweise der Ifo-Geschäftsklima-Index steil nach unten. Alles nicht Grund genug, die gegenwärtige Finanzpolitik darauf auszurichten, alten Versäumnissen und neuen Gegebenheiten gerecht zu werden?
Ich meine – ja! In dieser Situation der „etwas schwierigeren Zeiten“ ist es angezeigt, dass der Bund mehr Geld für Investitionen ausgibt. Dafür spricht der Nachholbedarf bei öffentlichen Investitionen, die wiederum private Investitionen nach sich ziehen; aber auch, dass in wirtschaftlich sich verschlechternden Zeiten, in denen Nachfrage fehlt, nicht auch noch der Staat sparen sollte. Insbesondere nicht, wenn Geld da ist und Kredite quasi zu null Prozent Zinsen aufgenommen werden können. Die Gegenargumente: „Sparen ist der beste Beitrag zur Generationengerechtigkeit“ und die Behauptung, nur mit einem soliden Haushalt erhalte sich Deutschland das Vertrauen der Investoren können nicht überzeugen. Was ist ein konsolidierter Haushalt wert, wenn mit dann noch höherem finanziellem Aufwand die heute schon kaputte und dann noch stärker verschlissene und veraltete Infrastruktur Jahre später erst repariert oder modernisiert wird? Und – wie gesagt – seit 2012 erzielt der Bund Haushaltsüberschüsse und die Unternehmen investieren dennoch nicht. Warum sollten Investoren sich auch abwenden, wenn der Bund Geld ausgibt, was er sogar laut Schuldenbremse darf – nämlich 0,35 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung, was gegenwärtig rund zehn Milliarden Euro ausmachte?
Das Land hat – wie oben gesagt – einschneidende Wirtschaftsreformen hinter sich, die es wieder auf einen Wachstumspfad gebracht haben. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr! Um den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg zu sichern, ist ein grundlegendes wirtschafts- und finanzpolitisches Umdenken von Nöten. Die Stimmen, die das fordern, mehren sich; so es sei ein „Neustart“ notwendig, „die Wirtschaftspolitik“ folge „keinem Kompass“ – oder nur dem falschen? Neben vielem, was jetzt erörtert und postuliert wird, ist eines klar: Es ist jedenfalls an der Zeit, die „schwäbische Hausfrau“ aufs Altenteil zu schicken!