von Ulrich Busch
Irgendwann treibt diese Frage einen jeden von uns um, spätestens beim Eintritt ins Rentenalter stellt man sie sich und fängt an, ernstlich darüber nachzudenken, was von einem bleibt, wenn das Leben zu Ende ist – und ob überhaupt etwas übrig bleibt. Philosophen, Pädagogen, Soziologen und Literaten, Intellektuelle überhaupt, trösten sich gerne damit, indem sie auf ihre Schriften verweisen und sich der Hoffnung hingeben, diese würden sie überleben und ihren Nachruhm begründen. Hübsch aufgereiht stehen sie im Regal und sorgen so vermeintlich für die Verewigung der eigenen Existenz. Aber schon der Besuch einer alten, ehrwürdigen Bibliothek vermag uns eines Besseren zu belehren: Die Folianten und in Leder gebundenen Werke, Bücher und Zeitschriften ohne Zahl, die dort stehen, liest niemand mehr und braucht auch keiner. Sie könnte auch kaum noch einer lesen: Ihr Inhalt ist überholt, ihr Stil veraltet, ihre Sprache kaum mehr verständlich, ihre Themen passé. Im Grunde genommen sind sie ebenso tot wie ihre Verfasser. Sie sind bloß übrig geblieben, um zu vergilben und zu verstauben und um von den Motten gefressen zu werden. Aber was ist mit den Ideen und Gefühlen, die in ihnen niedergelegt worden sind? Bleiben diese wenigstens erhalten, um dem gelebten Leben posthum Sinn und Nachruhm zu verleihen? – Mitnichten! Nichts ist mehr an eine bestimmte Zeitperiode, die Zeit ihrer Hervorbringung, gebunden als Ideen und Gefühle. Diese lassen sich nicht konservieren und in andere Zeiträume transferieren. Sie erleben deshalb auch höchst selten eine Reinkarnation in späterer Zeit. Seine Hoffnung auf Nachruhm hierauf zu gründen, erweist sich folglich als romantische Illusion, ebenso wie der Glaube an das ewige Leben oder die Fortexistenz der Seele nach dem physischen Tod eine ist. Beides beruht auf Selbsttäuschung. Man sollte Abstand davon nehmen.
Wir können resümieren: So bedauerlich es ist, von den zu Lebzeiten produzierten Büchern, Bildern, Filmen, Fotos – Artefakten aller Art, bleibt letztlich nichts übrig, und von den darin enthaltenen Ideen auch nicht. Davon ausgenommen sind nur die ganz großen Werke der Kunst und der Wissenschaft, die großartigsten Monumente der menschlichen Zivilisation. Aber um die geht es hier nicht, sondern um Alltagsleistungen und -erfahrungen. Und diese enden für gewöhnlich im Nichts. Aber wenn schon der geistige Nachlass verloren geht, bleibt uns da nicht wenigstens der Körper? Dies ist eine interessante Frage, der nachzugehen sich durchaus lohnt, und das nicht nur für Materialisten.
Ein diesbezügliches Schlüsselerlebnis hatte ich bereits vor Jahren, als ich das Höhlenkloster in Kiew besuchte. Hier finden sich Hunderte mumifizierte Mönche aus mehreren Jahrhunderten, jeder in seiner körperlichen Individualität bestens erhalten und sorgfältig aufbewahrt. Nur eben tot, trotzdem aber für die Nachwelt nicht verloren, sondern physisch vorhanden, also existent und eindringlich erlebbar. Der Eindruck von Kiew wiegt stärker als jener, den ein mittelalterliches Beinhaus wie zum Beispiel das in Hallstatt in Oberösterreich vermittelt, wo Tausende von Knochen, von der Sonne gebleicht, ordentlich aufgestapelt liegen, die Gebeine auf der einen und die Schädel auf der anderen Seite. Das Ganze ist sehr platzsparend angeordnet, stellt mit Blick auf die Auferstehung jedoch eine Respekt erheischende logistische Herausforderung dar. In Hallstatt können die Überreste nicht nur einzelner Menschen, sondern ganzer Generationen besichtigt werden und es findet sich hinreichend Material, um auf die Frage nach dem, was bleibt, eine erschöpfende Antwort zu geben. Der Anblick der bleichen Gebeine liefert uns ein beeindruckendes Bild vom „ewigen“ Leben. Dieses tritt einem hier geradezu haptisch vor Augen – als ein Noch-Nichts oder eben als das, was vorläufig bleibt.
Dieser Eindruck lässt sich auf mannigfache Weise wiederholen. Zum Beispiel im Kellergewölbe der St Michan‘s Kirche in Dublin, wo sich ein hervorragend erhaltener Mumienschatz befindet, den man gegen Zahlung eines Obolus besichtigen kann. Und auch viele katholische Kirchen im Mittelmeerraum beherbergen die physischen Überreste prominenter Heiliger in gläsernen Särgen. Je mehr man davon gesehen hat, umso stärker verfestigt sich die Überzeugung, dass doch „etwas“ bleibt. Man muss nur verstehen, es richtig aufzubewahren! Den bisherigen Höhepunkt meiner diesbezüglichen Nachforschungen stellte ein Besuch in den Katakomben des Kapuzinerklosters von Palermo dar.
Dort halten sich mehr als 8.000 Mumien versteckt, nicht nur ruhend und scheinbar schlafend wie in Kiew, sondern in allen möglichen Posen dem Publikum zugewandt – einige stehend, andere sitzend, manche scheinen in ihrer Bewegung gerade innezuhalten. Und es sind keineswegs nur Mönche, die sich da zeigen, sondern ganz normale Bürger, die hier seit dem 17. Jahrhundert Aufnahme fanden. Ihre Bekleidung entspricht der Mode ihrer Zeit, ebenso die Haartracht, sofern vorhanden, und auch die Accessoires. Auffällig geschminkt und sonntäglich gekleidet präsentieren sie sich dem staunenden Besucher. So mancher von ihnen vermag heute, derart herausgeputzt, vielleicht sogar mehr herzumachen als zu Lebzeiten. Und was das Wichtigste ist, dieser physische Glanz bleibt über die Jahrhundert hinweg erhalten. Er verblasst nicht wie die Tinte auf dem Geschreibsel der Literaten und wie der Nachruhm, den sich Intellektuelle, gestützt auf ihren Nachlass, vergeblich herbeisehnen. Es tut gut, sich die modisch aufgemachten mumifizierten Leichen im Convento dei Cappuccini in Palermo anzuschauen. Man bekommt hier eingehend vor Augen geführt, was wirklich bleibt, auch wenn nicht ganz ohne Blessuren. Hierauf, auf den Körper, sollte man seine Bemühungen um den Nachruhm gründen – und nicht auf die Seele oder den Geist, und noch weniger auf Geschriebenes oder Gedrucktes. Dieses taugt nur für den Augenblick und mit ihm verflüchtigen sich Seele und Geist, jener aber ist für die Ewigkeit bestimmt. Und sollte diese einmal enden und damit auch die körperlichen Überreste dem Nichts verfallen, so wäre es nicht schade um sie. Denn ohne Seele und Geist sind auch sie – nichts.
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