von Heino Bosselmann
Wo entdeckt sich eigentlich das politische Rückgrat der neuen alten Bundesrepublik? Ja sicher, auf den Freisitzen der Cafés und Restaurant am durchsanierten Prenzlauer Berg. Wo aber auf dem Lande, wo im befriedeten Osten? Man entdeckt es, wenn man schon morgens mal nicht durch die Natur, sondern durch eines der gepflegten Eigenheimgebiete joggt, die sich um die Städte des Beitrittgebietes gelagert haben.
In diese so künstlich wie sauber anmutenden Siedlungen zogen jene, die, arbeitsam, fit und selbstdiszipliniert, schon als sozialistische Plattenbau-Bewohner gut funktionierten und erfolgreich waren. Sie überstanden die Konversion des kollektivistischen Sozialismus zum durchindividualisierten Kapitalismus nicht nur, sondern waren als besonders engagierte Kräfte gut am Markt zu platzieren; sie hatten Familie und Kredit, beauftragten nach genauer Durchrechnerei eine schlüsselfertig bauende Firma und warten jetzt geduldig ab, bis die mit gartenbaulichem Geschick erfolgten Anpflanzungen den spröden Charme der Anlage etwas eingrünen, auf dass ihr Familiendomizil nicht mehr ganz so geplant, sondern schon beinahe naturgeworden aussehe.
Während sich draußen die Bäumchen im Wechsel der Jahreszeiten Jahresring auf Jahresring stülpen, sorgen die Bewohner für das Abzahlen ihrer Raten. Sie tragen das System so, wie der Schuldner nun mal den Gläubiger trägt. Immerhin bindet ein Kreditvertrag fester als jede Ehe und sorgt zuverlässig dafür, dass man sich motiviert in den großen Reproduktionsprozess einordnet, und zwar an möglichst ertragreicher Stelle. Wer in einer Eigenheimwohnung lebt, der funktioniert so zuverlässig wie die eigene Gasheizung. Keine Experimente! Lange vorm Widerstand gegen den Konsumismus käme der Selbstmord der Privatinsolventen.
Hier draußen, hinter Buxbaumhecken und gestutztem Rasen ist verklinkert die politische Mitte zu Hause, von der neuerdings immer die Rede ist. Man ist Bürger, klar, eher Kleinbürger, maßvoll auf engem Geviert, weil jeder Quadratmeter kostet. Ist man noch nicht zum ausgewiesenen Leistungs- und Entscheidungsträger aufgestiegen, so doch aber zum Profi-Verbraucher. Im Sinne der letzten DDR-Plakate aus der Zeit der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Man leistet was, und man leistet sich was: Carport, Grillplatz, Pergolaecke mit Plasterutsche und Gummibecken für die Kleinen. Alles sehr praktisch, so für das Treffen mit Freunden und die neuerdings üblichen Familienevents: gemeinsames Kochen, Spieleabende, kleine artige Partys, bei denen man ein paar Bonmots austauscht und sich gegenseitig ein bisschen beguckt.
Bei denen mit den noch etwas schickeren, nicht ganz so konfektioniert wirkenden Häuschen reicht es vielleicht gar zu einer legal eingestellten und ethisch korrekt bezahlten Putzfrau, bei allen aber zu Mehrfacheinkäufen bei den besseren Discountern und zum andauernden Nachtanken. Das Auto ist wichtig, sonst kommt man aus dem Wohlstandsbezirk gar nicht heraus. Als erstes muss ein Eigenheimer die Lösung aller Transport- und Logistikprobleme der familiären Haushaltung beherrschen: Waren reinholen, Trennmüll und Rasenschnitt wegschaffen, Kinder zu deren vielfältigen Verpflichtungen chauffieren – Pferdehof, Musikschule, Physiotherapie, Förderunterricht. Weil in Bezug auf Mengen und Personen viel zu bewegen ist, avancierte der Van oder gar Kleinbus zum bevorzugten Vehikel der saturierteren Familien. Wer mehr auf sich hält, fährt einen riesigen Rover, so als müsste er notfalls die Kalahari durchqueren können. Man sieht immer mehr Fahrzeuge von militanter Ranger-Anmutung, aber Familienväter tragen heutzutage ja auch dicke Fliegeruhren wie F 16-Bomberpiloten. Hat man seine eigene Fitness längst verlorenen, verlagert man sie unter die Motorhaube und behilft sich mit stärkenden Accessoires.
Auf meiner morgendlichen Trainingsrunde laufe ich, aus der Altstadt kommend, die geometrisch so sinnig angelegten Straßen und Wege der neuen Trabantenbezirke entlang, mitten durch fremdes Leben hindurch, am liebsten, wenn der unsere Gesellschaft tragende Mittelstand gerade seinen Tag beginnt und seine genau katasterten Grund-Stücke verlässt, um zu neuer Wertschöpfung aufzubrechen. In scheckheftgepflegten Karossen, vorzugsweise dunkel und poliert, rollen Männer mit sorgfältig getrimmten Bärten an mir vorbei; in Kleinwagen, gern kindlich bunt oder gar mit witzig aufgeklebten Blüten- oder Schmetterlingsdekor aufgepeppt, folgen ihnen die Gattinnen, sehr geschmackvoll zurechtgemacht, dezent geschminkt, die Haut straff, nur schon etwas durchgetrocknet, was am Stress oder intensivem Fitness-Training liegen mag.
Hinter den Damen sitzt dann und wann ein TÜV-sicher verschnalltes und einer Bildungseinrichtung zuzuführendes Kind, das im Fond des Wagens aufwachsen wird. Wenigstens die ersten Jahre. Der ältere Nachwuchs ist – obligatorisch mit Helm – durchaus mal mit dem Rad unterwegs oder wartet an den Bushaltestellen. Selbstverständlich alles Abiturienten mit den „good genes“ des besserverdienenden Milieus. Mehr zu fordern als zu fördern. Schlaksige, etwas ungelenk wirkende Jungen mit weiten Hosen und hängenden Scheiteln, daneben Mädchen, die schon wie verheiratet oder wenigstens so glatt wie in Telenovelas oder in der Shampoo-Werbung aussehen.
Was für eine Zufriedenheit, denkt man beim Vorbeilaufen! Alles so beflissen regsam, urgesund, nichts Lautes, kein Zoff, nicht mal Zigarettenkippen irgendwo. Selbstverständlich nicht. Überall die Verbotsschilde gegen am falschen Ort kackenden Hunde. Hier ist man Vorbild, beschädigt sich nicht selbst und arbeitet an der Selbstoptimierung. Die Nachtruhe ist heilig, denn die Häuser, so viel jedes für sich auch hermacht, stehen eng beieinander, etwa so wie früher Zelte auf Camping-Plätzen. Überhaupt erinnert der Grundriss durchaus an ein Lager. Nur sind die klaren Linien und Symmetrien plastisch-organisch gemildert. Handelte es sich nicht um eine contradictio in adiecto, könnte man soziologisch durchaus von einem Wohlstandghetto reden.
Wie lebt es sich wohl in solchen Häusern? Unten ein gemütlich weitläufiger Wohnbereich mit großer Küche, vermutlich von amerikanischer Anmutung. Sicher ein großes Zimmer mit tiefer gelegter Sitzgruppe, auswuchernden Grünpflanzen, an den Wänden expressiv farbaktive Bilder mit Nolde-Rot und rundum so einiges an edel nüchternem Design, elegant funktional wie Architekten-Tischleuchten, und selbstverständlich einer dieser alle cineastische Bedürfnisse zufriedenstellenden Flachbildschirme, die neben dem Fernsehprogramm, wie man hört, noch so allerlei bringen können. Oben dann das Schlaf- und die Kinderzimmer, viel gelaugtes Naturholz, obligatorisch ein zweites Bad und aus dem Giebel heraus die Aussicht über die gesamte schnucklige Siedlung, hinter der am Horizont die alte Stadt liegt, der man glücklicherweise entwich.
Ist das ein Neidreport? Willst du hier wohnen, frage ich mich, hier, in der nouvelle-tristesse statt in deinem möblierten Zimmer mit der Gemeinschaftsküche? Eher nicht. Oder doch! Des Komforts wegen oder wenigstens um der Frauen willen, diese hoffnungschwangeren, sehnsuchtsvollen – in der Restsüße ihres Lebens?
Ach, denke ich beim Joggen, du bist alt geworden, Alter. Hast als Kind noch morgens mit deinem Vater in den sogenannten Schmutzeimer gestrullt und dich gleich daneben in der Emaille-Schüssel gewaschen, in einer Küche, die heute vermutlich jede Hygiene-Kontrolle sofort sperren würde. Wasser aus der Pumpe im Hof, das große Geschäft im Plumpsklo des Stalles, Zeitungspapier für den Hintern. Neben dem Donnerbalken ein Kerzenstummel, wenn einer im Dunkeln mal musste. Vor der ersten Wasserspülung, die du erlebtest, bist du fortgerannt wie ein erschreckter Eingeborener, weil dir deren Dröhnen Angst einjagte. Im Ofen, ja sogar im Herd noch böse Braunkohlen-Briketts, giftig schwefliges Zeug, für das Lausitz-Dörfer weggebaggert wurden, der Kühlschrank ein brummendes Urvieh, aber reinster Luxus, doch in einem Verschlag immer noch die Speisekammer voller Leckereien.
Was war das für ein Abenteuer: Zwar nicht das Mini-Land selbst, aber ansonsten alles offen, der durchlüftete Gegensatz zu den technisch so perfekten, aber beängstigend geschlossenen Systemen. Wer heute wohnt, lebt hermetisch keimfrei und weitgehend herausgehalten aus allem. Wir traten gleich ins Freie; uns fehlte das Sicherheitsglas zwischen dem Zuhause und der Natur. Wurden wir kutschiert, waren wir unangeschnallt und staunten über die vorbeifliegende Landschaft. Wer mit einem Helm auf den Rad gesessen hätte, wäre als Rennfahrer bestaunt worden. Der Sommer hob die Gardinen, der Winter zeichnete grau-weiße Eisblumen an die undichten Fenster. Indianerkinder waren wir, aufwachsend in einer weltgeschichtlichen Pausensituation, zu Hause in einer kleinen marktfernen und etwas weltverlorenen Satrapie zwischen übersichtlichen Gebirgen und einem flachen Randmeer hinterm Eisernen Vorhang. Es mag allzu romantisch sein, sich daran zu erinnern. Wenig Anhaftung, würde man heute sagen, beugte Verlustängsten vor. Gut, es band und verband die Ideologie. Heute wohl tatsächlich nur noch die Kredite und die bloße Fähigkeit, diese zu bedienen.
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