17. Jahrgang | Nummer 22 | 27. Oktober 2014

Über die Kunst der politischen Lüge

von Jonathan Swift

Meine Freunde haben mich durch beharrliche Bitten bewogen, die Behandlung des in meinem letzten Beitrag begonnenen Themas zu unterbrechen und eine Abhandlung über die Kunst der politischen Lüge zu schreiben.
Man sagt uns, „dass der Teufel der Vater der Lüge ist und von Anfang an ein Lügner war“, so dass es sich zweifellos um eine alte Erfindung handelt. Noch wichtiger ist, dass der erste Versuch des Teufels rein politisch war, denn er diente dazu, die Autorität seines Fürsten zu unterhöhlen und den dritten Teil seiner Untertanen vom Gehorsam abzubringen. Dafür wurde der Teufel aus dem Himmel vertrieben, wo er (wie Milton es ausdrückte) Vizekönig einer großen westlichen Provinz gewesen war, und wurde gezwungen, seine Fähigkeiten in den unteren Regionen unter den gefallenen Engeln oder armen betrogenen Menschen anzuwenden, die er noch heute jeden Tag zu seiner eigenen Sünde verführt und weiter verführen wird, bis er in dem bodenlosen Abgrund an der Kette liegt.
Aber wenn auch der Teufel der Vater aller Lüge ist, schein er doch, wie andere große Erfinder, durch die ständigen Verbesserungen, die nach ihm gemacht wurden, viel von seinem Ruf verloren zu haben.
Wer als erster die Lüge zu einer Kunst gemacht und sie auf die Politik angewendet hat, geht aus der Geschichte nicht ganz klar hervor, obwohl ich einige sorgfältige Nachforschungen angestellt habe. Ich werde sie daher nur in ihrer modernen Methode betrachten, wie sie in den letzten zwanzig Jahren im südlichen Teil unserer Insel gepflegt worden ist.
Die Dichter erzählen uns, dass nach der Überwältigung der Giganten durch die Götter die Erde aus Rache einen letzten Spross hervorbrachte, die Fama. Die Fabel wird so gedeutet, dass immer wenn Tumulte und Aufruhr zur Ruhe gebracht worden sind, zahllose Gerüchte und Falschmeldungen im Volk verbreitet werden. Nach dieser Auslegung ist also die Lüge das letzte Hilfsmittel einer geschlagenen, erdverwandten und rebellischen Partei in einem Staat.
Aber hier hat unsere Zeit wichtige Zusätze gemacht, indem sie diese Kunst zur Gewinnung der Macht, zu deren Erhaltung und zur Rache nach deren Verlust benutzt, Wie ja auch die Tiere die gleichen Werkzeuge benutzen, um sich zu ernähren, wenn sie hungrig sind, und um jene zu beißen, von denen sie getreten werden.
Dieser gleiche Stammbaum gilt aber nicht immer für die politische Lüge. Ich möchte ihn daher etwas vervollkommnen, indem ich einige Einzelheiten über ihre Geburt und ihre Eltern hinzufüge. Eine politische Lüge wird manchmal im Kopf eines abgewirtschafteten Staatsmannes geboren und von ihm entbunden, um vom Pöbel gehegt und gepflegt zu werden. Manchmal wird sie als Ungeheuer geboren und zurechtgeleckt, in anderen Fällen erscheint sie in der fertigen Gestalt und wird beim Ablecken verdorben. Oft wird sie ganz normal als Kleinkind geboren und braucht Zeit zum Ausreifen, oft tritt sie aber auch ausgewachsen ans Tageslicht und schwindet allmählich dahin. Manchmal ist sie vornehmer Herkunft und manchmal die Brut eines Börsenjobbers. Hier schreit sie laut bei der Geburt, dort wird sie flüsternd zur Welt gebracht.
Ich kenne eine Lüge, die jetzt mit ihrem Lärm das halbe Königreich in Aufregung bringt und heute zu stolz und zu groß ist, um sich noch zu ihren Eltern zu bekennen; ich kann mich aber noch gut an ihre Flüsterzeit erinnern. Noch ein Wort zum Abschluss der Geburtsgeschichte des Ungeheuers: Wenn es ohne Stachel auf die Welt kommt, ist es totgeboren, und wenn es den Stachel verliert, stirb es.
Kein Wunder also, dass ein Kind nach solch einer wundersamen Geburt zu großen Abenteuern bestimmt ist, und so sehen wir, dass die Lüge fast zwanzig Jahre lang der Schutzgeist einer herrschenden Partei gewesen ist. Sie kann Königreiche ohne Kampf erobern und manchmal sogar mit einer verlorenen Schlacht. Sie gibt und nimmt Ämter, kann einen Berg zum Maulwurfshaufen schrumpfen lassen und einen Maulwurfshaufen zu einem Berg erheben; sie hat viele Jahre lang bei Wahlausschüssen den Vorsitz geführt, kann einen Mohren weiß waschen, aus einem Atheisten einen Heiligen machen und aus einem Lumpen einen Patrioten; sie kann ausländische Minister mit Nachrichten versorgen und mit den Kredit einer Nation steigen oder fallen lassen.
Diese Göttin fliegt mit einem mächtigen Spiegel in den Händen umher, um die Massen zu blenden und sie je nach Drehung des Spiegels, ihr Verderben in ihrem Vorteil oder ihren Vorteil in ihrem Verderben sehen zu lassen. In diesem Spiegel kann man seine besten Freunde erblicken in Mänteln, die mit den Lilien Frankreichs und mit Tiaren übersät sind, Gürteln , die rundum mit Ketten und Rosenkränzen und Holzschuhen behängt sind, und die schlimmsten Feinde geschmückt mit den Zeichen der Freiheit, des Eigentums, der Toleranz und Mäßigung und mit einem Füllhorn in den Händen. Die großen Flügel der Göttin gleichen denen eines fliegenden Fisches und sind nur zu gebrauchen, solange sie feucht sind. Deshalb taucht sie in den Schmutz und verspritzt diesen beim Empor fliegen in die Augen der Menge; sie fliegt mit hoher Geschwindigkeit, muss sich aber ständig wieder auf schmutzige Wege hinab lassen, um neuen Vorrat zu holen.
Manchmal habe ich schon gedacht, wenn doch ein Mensch die Gabe eines zweiten Gesichts für Lügen hätte, wie sie es in Schottland für Geister haben! Wie prächtig könnte er sich in dieser Stadt amüsieren und die verschiednen Formen, Größen und Farben jener Lügenschwärme beobachten, die um die Köpfe einiger Leute schwirren wie die Fliegen im Sommer um die Ohren eines Pferdes, oder jene Legionen, die jeden Nachmittag über die Börsengasse schweben – zahlreich genug um den Himmel zu verdunkeln – oder über einen Klub unzufriedner Magnaten, von wo man sie dann in ganzen Wagenladungen losschickt, um sie bei Wahlen auszustreuen.
Es gibt einen wesentlichen Punkt, in dem sich der politische Lügner von seinen Zunftbrüdern unterscheidet: Er braucht nur ein kurzes Gedächtnis. Das ist notwendig, wegen der ständig wechselnden Situationen, die es mit sich bringen, dass er von sich selbst abrücken und entgegen gesetzte Meinungen durch Schwur bekräftigen muss, je nach Einstellung seiner jeweiligen Partner. Bei der Beschreibung der Tugenden und Laster der Menschheit ist es zweckdienlich, bei jedem Punkt irgendeine hervorragende Persönlichkeit im Auge zu haben, die man seiner Beschreibung zugrunde legt.
Ich halte mich immer streng an diese Regel, und meine Einbildungskraft stellt mir in diesem Augenblick einen gewissen großen Mann dar, der auf diesem Gebiet sehr berühmt ist. Der ständigen Anwendung der Fähigkeiten verdankt er seinem zwanzig Jahre alten Ruf als der geschickteste Kopf Englands für die Erledigung heikler Angelegenheiten. Die Überlegenheit seines Geistes besteht ausschließlich in einem unerschöpflichen Vorrat politischer Lügen, die er reichlich ausstreut, sobald er nur den Mund auftut; in seiner beispiellosen Großzügigkeit vergisst er sie sofort, um ihnen folglich in der nächsten halben Stunde zu widersprechen. Er hat sich noch nie darum geschert, ob seine Behauptung richtig oder falsch war, sondern nur, ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt oder in der Gesellschaft zweckdienlich wäre, zuzustimmen oder abzulehnen. Sucht man ihn hinter seine Schliche zu kommen, indem man alle seine Aussprüche ins Gegenteil umdeutet, wie man es mit Träumen macht, so ist man immer noch im ungewissen und wird sich weiterhin getäuscht finden, ob man ihn nun glaubt oder nicht. Es bleibt einen nichts übrig, als sich vorzustellen, man habe einige unverständliche Laute gehört, die keinerlei Sinn haben. Damit verliert sich auch der Abscheu, den man vor den Flüchen empfinden möchte, mit denen er ständig jede Behauptung an beiden Enden verbrämt. Und doch würde man Ihm, glaube ich, zu Unrecht des Meineides bezichtigen, wenn er Gott und Christus anruft, denn er hat der Welt oft deutlich und öffentlich zu verstehen gegeben, dass er an keinen von beiden glaubt. Einige Leute können nun vermeinen, dass eine solche Fertigkeit weder ihrem Besitzer noch dessen Partei von großem Nutzen sein kann, nachdem sie oft angewandt und notorisch geworden ist. Aber das ist ein großer Irrtum, denn nur wenige Lügen tragen den Stempel des Erfinders, und der schändlichste Feind der Wahrheit kann Tausende verbreiten, ohne dass man ihn als ihren Urheber erkennt Außerdem hat der größte Lügner seine Gläubigen, so wie der gemeinste Schriftsteller seine Leser; und oft kommt es vor, dass eine Lüge nur eine Stunde lang geglaubt zu werden braucht, um ihren Zweck zu erfüllen, dann ist sie überflüssig.
Die Falschheit fliegt und die Wahrheit kommt hinterhergehinkt; wenn also die Menschen der Täuschung gewahr werden, ist es bereits zu spät: Der Hieb hat längst gesessen, und die Lügengeschichte hat ihre Wirkung getan; ähnlich wie bei einem Mann, der sich eine schlagfertige Antwort ausdenkt, wenn das Thema bereits gewechselt ist oder die Gesprächspartner sich wieder getrennt haben, oder wie bei einem Arzt, der eine unfehlbare Medizin findet, nachdem der Patient verstorben ist.
Angesichts der natürlichen Veranlagung vieler Menschen zum Lügen und noch im weit größerer Mengen zur Leichtgläubigkeit bin ich in Verlegenheit was ich mit der so häufig von jedermann im Munde geführten Sentenz „Die Wahrheit obsiegt doch letzten Endes“ anfangen soll. Hat doch unsere Insel hier seit nahezu zwanzig Jahren unter dem Einfluss von Meinungen und Personen gestanden, deren Sinn es war und in deren Interesse es lag, unsere Sitten zu verderben, unsere Einsicht zu blenden, unseren Reichtum abzuschöpfen und mit der Zeit unsere Kirchen- und Staatsverfassung zu zerstören.
Schließlich wurden wir bis hart an den Rand des Verderbens gebracht, waren aber wegen der ständigen Verdrehungen niemals in der Lage, zwischen unseren Freunden und Feinden zu unterscheiden. Wir haben es erlebt, dass ein großer Teil des Volksvermögens in die Hände von Leuten geriet, die nach Geburt, Erziehung und Verdienst allenfalls ein Anrecht auf eine Dienststelle bei uns hatten, während andere, die durch Vertrauenswürdigkeit, rang und Reichtum das Ansehen und den Erfolg der Revolution hätten mehren können, nicht nur als gefährlich und unbrauchbar beiseite geschoben, sondern sogar als Jakobiten, Männer mit Tendenzen zur Willkürherrschaft und Söldlinge Frankreichs verleumdet wurden.
Die Wahrheit, von der man behauptet, dass sie in einem tiefen Brunnen verborgen liegt, wurde dort nun offenbar unter einem Haufen Steine begraben. Ich erinnere mich aber, wie die Whigs sich immer darüber beklagten, dass die Mehrheit der Grundbesitzer nicht auf ihrer Seite stehe. Einige der Klügsten sahen dies als ein schlechtes Ohmen an, und wir erkannten, dass sie nur unter größten Schwierigkeiten ihrer Mehrheit erhalten konnten, solange der Hof und das Kabinett auf ihrer Seite standen.
Dann kamen sie aber auf den Wundervollen Ausweg, die Wahlen durch Beeinflussung weit entlegener Wahlkreise durch starke Beweggründe von der Hauptstadt her zu entscheiden. Aber all das war nichts anderes als Gewalt und Zwang, auch wenn sie durch äußerst geschickte Kunstgriffe und Manipulationen aufrecht erhalten wurden, bis das Volk schließlich zu begreifen begann, dass sein Eigentum, seine Religion und die Monarchie selbst in Gefahr waren. Dann erfasste es – wie wir sahen – eifrig die erste Gelegenheit zum Eingreifen.
Aber über diesen gewaltigen Umschwung in der Stimmung des Volkes werde ich in einer späteren Nummer ausführlicher schreiben und mich dabei bemühen, den Betrogenen und den Betrügern selbst klaren Wein einzuschenken, die behaupten oder hoffen, es handele sich nur um einen kurzen Rausch der Volksmenge, von dem sie sich wohl bald wieder erholen würde. Ich glaube demgegenüber, es wird sich herausstellen, dass dieser Umschwung in seinen Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen völlig anders ist und sich nur um ein gutes Beispiel für den eben erwähnten Grundsatz erweisen wird, dass „die Wahrheit“ (wenn auch manchmal spät) „letzten Endes doch obsiegt“.

Erstmals publiziert im November 1710. Die Schreibweise der Quelle wurde beibehalten.

Dieser Text wurde von Blättchen-Leser Hans-Jürgen L. aus Mühlheim an der Ruhr übermittelt, dem wir herzlich danken – die Redaktion.