von Bernhard Romeike
US-Präsident Obama hatte Ende September vollmundig erklärt, die „US-Führung“ sei „die einzige Konstante in einer unsicheren Welt“. Dazu passte, dass just zum Gründungstag der Volksrepublik China am 1. Oktober in Hongkong „Massendemonstrationen für freie Wahlen“ stattfanden. Ein „Maidan-Szenario“ nun auch in China? Als ob die Welt mit „Islamischem Staat“, Ukraine-Krise, absichtsvoll verschlechterten Beziehungen zu Russland und Staatszerfall in weiten Teilen des Nahen Ostens und Afrikas nicht schon unsicher genug wäre! Aber ja, viel Krisen, viel Ehr’ für die einzig konstanten USA. Die taz, das Zentralorgan der neuen „Freiheitspartei“ in Gestalt der Grünen (nachdem die FDP Schiffbruch erlitt) titelte pünktlich am 1. Oktober: „Revolution made in Hong Kong“. Aber Rebecca Harms konnte den Koffer wieder auspacken. Der Termin, mit wem auch immer in Hongkong, fiel aus. Schon wenige Tage später wurde gemeldet, „dass sich in Hongkong gerade keine Revolution ereignet“ (Spiegel Online, 6. Oktober).
Nun ersetzt unruhe-politisch Aufruhr in Hongkong gerade nicht einen in Peking. Hongkong war britische Kronkolonie, bis es am 1. Juli 1997 Sonderverwaltungszone innerhalb der Volksrepublik China wurde. Die britische Herrschaft über Hongkong war Resultat des ersten Opiumkrieges 1841, durch den China für den britischen Handel – nicht nur mit dem Rauschgift Opium – geöffnet wurde. Der „Vertrag von Nanking“, abgeschlossen am 29. August 1842 nicht etwa in der chinesischen Stadt, sondern an Bord eines britischen Kriegsschiffes, das vor Nanking ankerte, zwang China nicht nur das „ewige Besitzrecht“ Großbritanniens an der Insel Hongkong auf, sondern sieben Millionen Silberdollar Entschädigung für 1839 in China vernichtetes britisches Opium – sozusagen als Tribut an den „Freihandel“ – und weitere zwölf Millionen als Aufwandsentschädigung für Britanniens Krieg gegen China sowie weitgehende Handelsrechte britischer Unternehmen im Lande. 1860 musste China Kowloon, ein Gebiet auf dem Festland, das der Insel Hongkong gegenüberliegt, abtreten. Weitere, nördlich davon liegende Gebiete, die „New Territories“, sowie 235 Inseln übernahm Großbritannien 1898 per Pachtvertrag auf 99 Jahre.
Nachdem Chinas starker Mann Deng Xiaoping Anfang der 1980er Jahre die wirtschaftliche Öffnung Chinas durchgesetzt hatte, hoffte die britische Regierung auf eine Verstetigung der britischen Herrschaft über Hongkong und die Entfristung des „Pachtvertrages“. Es gehört zu den delikaten Vorgängen der Diplomatiegeschichte, dass Großbritannien meinte, ein für „99 Jahre“ abgeschlossener Pachtvertrag sei „für immer“ geschlossen, während die chinesische Seite darauf bestand, 99 Jahre seien 99 Jahre und nichts anderes – wahrscheinlich scheinen in dem hektischen westlichen Kapitalismus tatsächlich 99 Jahre eine Ewigkeit zu sein, während in einer Staatskultur von über 2.200 Jahren dies nur eine Episode ist.
Nun wird in etlichen Texten zum Thema behauptet, de jure hätte China nur die 1898 gepachteten New Territories verlangen können, aber Großbritannien sei China aus diplomatischen Gründen entgegengekommen. Das aber ist völkerrechtlicher Unsinn. So heißt es in der „Deklaration über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker“ vom 14. Dezember 1960: Die UNO-Vollversammlung verkündet „feierlich, dass dem Kolonialismus in allen seinen Formen und Erscheinungen unverzüglich und ohne jede Einschränkung ein Ende gemacht werden muss“. Die „Wiener Konvention über das Recht der Verträge“ vom 23. Mai 1969 legt in Art. 64 fest: „Wenn eine neue zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts entsteht, wird jeder bestehende Vertrag, der im Widerspruch zu dieser Norm steht, nichtig und erlischt.“ Art. 71 bestimmt demgemäß, in einem solchen Falle „befreit die Beendigung des Vertrages die Partner von jeder Verpflichtung, den Vertrag weiterhin zu erfüllen“. Damit waren die ungleichen Kolonialverträge nichtig. Großbritannien blieb nichts, als Hongkong an China zurückzugeben. Das wurde in einer Gemeinsamen Erklärung vom 19. Dezember 1984 vereinbart, auf der Grundlage des von Deng verkündeten Prinzips: „Ein Land, zwei Systeme“. Weitere Gespräche zwischen China und Großbritannien über das Wahlsystem wurden 1993 ergebnislos abgebrochen. Es gibt eine eigene Exekutive und eine Legislative Hongkongs; Staatsoberhaupt ist der chinesische Präsident, jetzt Xi Jinping.
Nun also die „Demokratiefrage“. Zunächst einmal hatte es unter der britischen Kolonialverwaltung nie Wahlen gegeben. Mit dem Übergang an China wurde festgelegt, dass der Regierungschef Hongkongs von einem speziellen Gremium gewählt wird, dem zunächst 400, dann 800 Personen angehörten. Die Zusammensetzung soll repräsentativ für die Bevölkerung sein, gilt aber als „undemokratisch“, weil es ein Übergewicht „Peking-treuer Geschäftsleute“ gäbe. Nun ist es gewiss absurd sich vorzustellen, dass Geschäftsleute, die ihr Geld mit der Vermittlung zwischen der rasch wachsenden chinesischen Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft verdienen, gegen ihre Interessen stimmen. In der Gesetzgebenden Versammlung gibt es 24 frei gewählte Abgeordnete und 30, die von Wahlkomitees bzw. der Volksrepublik ernannt werden. Für 2017 wurden freie Wahlen in Aussicht gestellt. Zum Verfahren hat der Chinesische Volkskongress, die gesamtchinesische Volksvertretung in Peking, beschlossen, dass ein Vertretungsgremium aus 1.200 Personen die Kandidaten dafür vorauswählen soll.
Als Organisatoren der Demonstrationen galten eine Bürgerrechtsbewegung „Occupy Central“, die dazu aufrief, das zentrale Viertel der Stadt zu besetzen; ihre Organisatoren sind der Jura-Professor Benny Tai und der Hedgefonds-Manager Edward Chin. Darüber hinaus ein Studentenverein und eine Gruppe von Schüleraktivisten.
Zunächst kamen zu den Demonstrationen mehr Menschen, als ihre Organisatoren und die Behörden erwartet hatten. Sie forderten den Rücktritt des Regierungschefs, die Rücknahme des Beschlusses des Volkskongresses und drohten mit der Besetzung des Regierungs- und Finanzzentrums. Nachdem an den ersten Tagen die Polizei zum Teil massiv mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen war, hielt sie sich dann eher zurück. Der Regierungschef forderte seinerseits dazu auf, das zentrale Viertel zu räumen. Am Ende verliefen sich die Demonstranten. Es wurden Verhandlungen vereinbart, mit dem nicht-zurückgetretenen Regierungschef. Ihm wird konzediert, er habe die Krise „ausgesessen“. Über den Beschluss des Volkskongresses zu verhandeln, wird ihm nicht möglich sein. Im „Rest“ Chinas war es ruhig geblieben. Es gab keinen „Funken“, der aus Hongkong irgendwohin übersprang.
Was die „Revolutionen“ des 21. Jahrhunderts anbetrifft, gilt bisher: Nur wenn gravierende soziale Probleme im Hintergrund politischer Konflikte stehen, wie in Ägypten oder der Ukraine, liegt bei den Organisatoren des Aufruhrs eine Eskalationsdominanz. Wenn es den Menschen wirtschaftlich gut und besser geht – und die Geschäftswelt ihre Kreise nicht stören lassen will –, dann gibt es eine De-Eskalationsdominanz auf Seiten der Regierenden. Und ein Hedgefonds-Manager als „Revolutionär des 21. Jahrhunderts“ wäre gewiss eine neue historische Gestalt.
Nachdem Führer der Studentenproteste mit einer neuerlichen Ausweitung ihrer Aktionen in der Stadt gedroht hatten, sollte die Regierung in den Verhandlungen nicht einlenken, hat die Hongkonger Verwaltung diese am Donnerstag kurzfristig abgesagt und vierzig Aktivisten verhaften lassen. Das Kräfteverhältnis wird weiter ausgestritten. Und Rebecca Harms holt womöglich doch noch den Koffer.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, China, Demokratiebewegung, Hongkong