17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Unterwegs mit Uwe Johnson

von Mathias Iven

Die Lebensorte von Schriftstellern haben für die Nachwelt immer einen besonderen Reiz. Frauke Meyer-Gosau, die im Jahre 2006 bereits eine Tour zu den Wirkungsstätten von Ingeborg Bachmann unternommen hat, folgt in ihrem jüngsten Buch den Wegmarken von Uwe Johnson. Herausgekommen ist dabei ein sehr persönlicher Text, der Johnsons Lebensstationen, „die Orte und Landschaften, die seine Romane von Anfang an beschwören“, nicht zu Pilgerstätten verklärt, sondern sie vor allem in Beziehung zu den dort entstandenen Büchern setzt.
Die Reise beginnt in Kamień Pomorski, also dort, wo Uwe Johnson am 20. Juli 1934 geboren wurde. In welchem der insgesamt achtzehn zum Dorf gehörenden kleineren und größeren Gehöfte das geschah, lässt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Wichtiger ist der Autorin die Umgebung. Land, Wasser, Himmel – hier, im heutigen Polen, sieht sie den „Ursprung all seiner späteren Bilder von Flüssen und Seen“.
Ein paar Kilometer westlich. Anklam, „Min Hüsung 12“: in diesem ziemlich schmucklosen, während der NS-Zeit erbauten Einfamilienhaus verlebte Johnson seine frühen Kinderjahre. Weiter führte sein Weg über Recknitz 1946 nach Güstrow. An diesem Ort, im „Gneez“ der Jahrestage, legte er 1952 sein Abitur ab. Ein paar Wochen später immatrikulierte er sich an der damaligen Rostocker Wilhelm-Pieck-Universität. „Er glaubte im Ernst“, so äußerte sich Johnson später zur Wahl seines Studienfaches, „er wähle das Studium der Germanistik, damit ihm der ständige Umgang mit Literatur erhalten bleibe.“
Neuerlicher Szenenwechsel. Nach Exmatrikulation und Wiederzulassung setzte Johnson sein Studium ab 1954 in Leipzig fort, für ihn die „wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“. Zu seinen dortigen Lehrern gehörten Ernst Bloch und Hans Mayer. Nach der Verteidigung seiner sich mit Barlachs Roman Der gestohlene Mond beschäftigenden Diplomarbeit stand die Frage, wie es nach dem Studium weitergehen sollte. Johnson fühlte sich zum Schriftsteller berufen. Doch er wollte nicht nur schreiben, sondern auch veröffentlichen – in der DDR, das hatte er schnell erkannt, würde es ohne Kompromisse nicht möglich sein. Im Juli 1959 ging er schließlich nach West-Berlin. Bereits kurze Zeit später betrat Uwe Johnson die literarische Bühne. Siegfried Unseld, mit dem er schon länger in Kontakt stand, präsentierte im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse Johnsons erstes Buch: Mutmaßungen über Jakob.
Über ein Jahrzehnt – unterbrochen von Lesereisen und längeren Aufenthalten in Rom und New York – lebte Johnson in West-Berlin. Doch all die Jahre war er auf der Suche. Sein Schreiben war ein ständiges Rückerinnern. Frauke Meyer-Gosau interpretiert Johnsons Werk „als ein immer dringlicheres Wiederheraufrufen eines verlorenen Seins-Zustands“, als einen darauf gerichteten Akt, „für das Verlorene einen Ersatz zu finden“.
Anfang der siebziger Jahre schien er diesen „Ersatz“ gefunden zu haben. Mit einem Darlehen seines Schriftstellerkollegen Max Frisch bewerkstelligte er im November 1974 den Umzug in den kleinen südenglischen Ort Sheerness-on-Sea. Selbst für heutige Besucher scheint das Städtchen im Nirgendwo zu liegen. Günter Kunert, einer der ersten Gäste im neuen Haus, hielt am 1. Januar 1975 in seinem Tagebuch fest: „Insel in oder schon außerhalb der Themsemündung; die Landkarte überläßt die genaue Zuordnung der Willkür des Reisenden“. Und wenige Zeilen später war zu lesen: „Karg möblierte Räume, alles renoviert; vom ersten Stock bietet sich einem ein sinistres Panorama: eine eintönige Wasserfläche.“
Für Johnson schien der Ort dennoch die Erfüllung zu sein – oder war es doch nicht so? Die Probleme häuften sich. Seine Familie zerbrach, er litt unter einer Schreibblockade und griff immer öfter zum Alkohol – Jahre sollten vergehen, bis er 1983 die Jahrestage vollendete. Sheerness war die letzte Station auf Johnsons Lebensreise. 1984 wurde er auf dem Halfway Cemetery bestattet. Nur wenigen Autoren gelingt es, ihr Thema souverän zu beherrschen und sich dennoch im Hintergrund zu halten. Frauke Meyer-Gosau ging es einzig darum, „Uwe Johnson zu vergegenwärtigen“ – was ihr ohne Zweifel gelungen ist! Und so ist dieses Buch weit mehr als ein literarischer Reiseführer. Es geht nicht nur um Orte, es geht um Johnson, um die Person, um sein unvergängliches Werk. Er ist es, der von sich und seinem Leben erzählt.

Frauke Meyer-Gosau: Versuch, eine Heimat zu finden – Eine Reise zu Uwe Johnson, Verlag C. H. Beck, München 2014, 296 Seiten, 22,95 Euro.