17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Muss Bildung exklusiv sein?

von Bernhard Mankwald

Nach dem gegenwärtig verbreiteten Verständnis ist das eine absurde Frage. Das Bildungsangebot soll heute vielmehr sein wie manche Offerten der Gastronomie: „all inclusive“ oder „all you can eat“. Dabei drängt sich allerdings die Frage auf, inwieweit das, was da von vielen Köchen nach Rezepten aus Bologna angerichtet wird, überhaupt noch genießbar ist.
In der Geschichte dagegen war Bildung stets ein Privileg und diente damit auch als Herrschaftswissen. Die klassische deutsche Philosophie wagte sich an viele zeitgenössische Tabuthemen heran, benutzte dabei aber, wie Heinrich Heine es nannte, einen derart „schwerfälligen, steifleinenen Stil“, dass sie nur Auserwählten verständlich war. Im Mittelpunkt des Bildungsideals stand die Kenntnis der alten Sprachen; technische Fächer wurden eher gering geschätzt. Die Offiziere der kaiserlichen Marine blickten verächtlich auf die Ingenieure und auf diejenigen Spezialisten hinab, die sich mit Funkgeräten oder Torpedos beschäftigten. Dabei war dies eine Teilstreitkraft, die auch Bürgerlichen gute Aufstiegschancen bot. Für die Karriere in den „feudalen“ Regimentern dagegen kam es vor allem auf die richtigen Vorfahren an. Daneben genügte dann ein sehr überschaubares Maß an Intelligenz.
Heute bestimmen nicht mehr Feudalherren unser Schicksal, sondern kapitalistische Unternehmer. Wie Antonio Gramsci schrieb, schaffen diese „mit sich den Techniker der Industrie, den Wissenschaftler der politischen Ökonomie, den Organisator einer neuen Kultur, eines neuen Rechts usw.“ Niemand kann all diese Tätigkeiten gleichermaßen beherrschen. Der Unternehmer hat das aber auch gar nicht nötig; er muss nur genug wissen, um die geeigneten Kräfte für diese Aufgaben auszusuchen und ihre Tätigkeit zu überwachen. Für ihn steht also der Gebrauchswert des Wissens im Vordergrund – des eigenen, aber auch desjenigen seiner Angestellten.
Wer sich jedoch mangels Eigenkapital an Schule und Hochschule auf eine abhängige Beschäftigung vorbereitet, muss sich auch Gedanken über den Tauschwert des erworbenen Wissens machen. Karl Marx argumentierte, dass der Tauschwert der Arbeitskraft durch die Kosten ihrer Reproduktion bestimmt wird. Dazu gehören zweifellos die Kosten der Ausbildung. Wer die Mühen einer längeren Ausbildung auf sich nahm, konnte daher stets auf ein höheres Einkommen hoffen. Marx sah jedoch auch, dass Waren nicht immer zu ihrem vollen Wert einen Abnehmer finden. Da dies besonders für reichlich vorhandene Güter gilt, hatten diese Spezialisten immer ein Interesse daran, möglichst unter sich zu bleiben. In den Zünften führte dies zu regelrechten Kartellen, und die Universitäten sind von ihrer Tradition her in mancher Hinsicht ähnlich strukturiert.
Die neuere Entwicklung läuft nun diesem Bestreben nach Exklusivität diametral entgegen. Der erweiterte Zugang zu höheren Schulen und Universitäten wurde von der westdeutschen Arbeiterbewegung als eine ihrer großen Errungenschaften der Nachkriegszeit betrachtet. Angesichts der Systemkonkurrenz und der zunehmenden Technisierung traf sie dabei auch nicht auf übermäßigen Widerstand, und die zusätzlichen Absolventen fanden zunächst ihren Platz. Dies ging einher mit der Ideologie der „Chancengleichheit“, die großzügig darüber hinwegsieht, dass die wichtigsten Chancen in unserer Gesellschaft mit dem weiterhin sehr ungleich verteilten Eigentum verknüpft sind. Die Entwicklung hing auch zusammen mit der Existenz der DDR, deren Bildungssystem ich nicht aus eigener Anschauung kenne; es scheint mir aber durch den Gegensatz zwischen einem eher egalitären Ansatz und deutlich knapperen Ressourcen bestimmt.
Die DDR ist längst Geschichte; und wie in anderen Bereichen sieht man darin die Chance, frühere Zugeständnisse zurückzunehmen. Die Öffnung der weiterbildenden Schulen ist allerdings kaum mehr rückgängig zu machen; die Hauptschule als Gattung stirbt aus. Von der so verlängerten Ausbildungszeit hat man nun aber an Schule und Universität je ein Jahr gestrichen; es bleibt ein Umfang, den früher das Studium an einer Fachhochschule hatte. Die betroffenen Bildungsabschlüsse sind also in gewissem Sinne einer Inflation ausgesetzt. Die auf diese Weise künstlich geschaffenen Sachzwänge dienen als Vorwand zur Verschulung und „Entrümpelung“ der Inhalte. Als Gerümpel aber müssen einer solchen Mentalität besonders diejenigen Inhalte erscheinen, die einem klassischen Bildungsideal entsprechen oder gar zum selbständigen Denken herausfordern – tendenziell also gerade das traditionelle Herrschaftswissen.
Die beschriebene Inflation der Bildungsabschlüsse führt auch zu einem Verfall ihres Tauschwerts; Volontäre und Praktikanten können noch weniger als früher voraussetzen, dass ihre Arbeit überhaupt entlohnt wird. Besonders schwer zu erwerbende Fertigkeiten sind weiterhin wenigen vorbehalten; sie werden aber bei Hochschulabsolventen längst nicht so gut honoriert wie etwa bei Fußballspielern. Anderen bleibt die Hoffnung, sich durch einschlägige Bemühungen für die mehr denn je prosperierende Verblendungsindustrie zu qualifizieren.
Die größere Verbreitung von Bildungsgütern hat auch Auswirkungen auf die Arbeitsteilung in ihrer gewohnten Form. Es gibt mehr qualifizierte Kräfte, diese müssen aber auch mehr elementare Tätigkeiten selbst übernehmen. Im Gegenzug werden viele dieser elementaren Tätigkeiten durch technische Entwicklungen erleichtert, die vor 20 Jahren noch als Science-Fiction gegolten hätten. Traditionelles Herrschaftswissen wird unter diesen veränderten Umständen in vielen Fällen unbrauchbar, zumal auch die zur Kritik daran befähigenden Kenntnisse weiter verbreitet sind denn je. Zugeständnisse an den Zeitgeist sind daher unvermeidbar und stellen in vielen Fällen wohl nur den Versuch dar, diesen Trend umzukehren und neue Herrschaftstechniken zu schaffen, die funktionieren.
„Eliteuniversitäten“ und ähnliche Institutionen stehen für den Versuch, eine neue Exklusivität zu schaffen. Im Interesse der überwiegenden Mehrheit, die da wiederum ausgeschlossen werden soll, kann das nicht sein; um es zu verhindern, steht ihr eine bisher ungeahnte Fülle an Wissen und technischen Hilfsmitteln zur Verfügung.
Herrschaftswissen für alle? Der Versuch, eine solche paradoxe Utopie zu verwirklichen, wäre gewiss interessant. Er könnte Kräfte freisetzen, die die Überwindung lang etablierter Missstände erlauben. Besonders neugierig aber könnte man darauf sein, wie sich der Charakter des Wissens selbst bei einem solchen Unternehmen ändert.