von Marius Hager
Dramatische Szenen ereignen sich gerade in Libyen. Wochenlange Kämpfe zwischen Milizen haben in der Hauptstadt Tripolis große Verwüstungen angerichtet. Der internationale Flughafen wurde vollständig zerstört und Libyen ist de facto von der Außenwelt abgeschnitten. Derweil liefern sich im Osten des Landes säkulare Soldaten und islamistische Milizionäre unübersichtliche Kämpfe. Eine echte Regierung existiert nicht mehr. Zwei konkurrierende Parlamente beanspruchen für sich, das libysche Volk zu vertreten. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent scheint die Legitimation jedoch kaum der Rede wert zu sein. Die Behörden haben in Tripolis nicht einmal mehr Zutritt zu Staatsgebäuden. Verschiedene Milizen haben die Kontrolle übernommen. Jeder, der dazu in der Lage ist, flieht aus dem zerfallenden Land. Die westlichen Länder evakuierten bereits Ende Juli ihre Botschaften. Wie schon im Bürgerkrieg 2011 machen sich zehntausende Menschen auf den Weg nach Tunesien und Ägypten, um der Gewalt zu entkommen. Wer vermutet hat, nach dem Sturz Gaddafis würde das Land eine Demokratie werden oder wenigstens ein sicheres Erdölfördergebiet, der wurde enttäuscht.
Die Hauptakteure in dem neuen libyschen Bürgerkrieg sind die Milizen. Sie bestehen aus denselben Kämpfern, die einst in den deutschen Medien als tapfere Rebellen gefeiert wurden. Ihre militärische Stärke und Brutalität hat inzwischen gewaltige Ausmaße angenommen. Etwa 1.700 Milizen teilen sich das Land seit dem Sturz Gaddafis untereinander auf. Oft handelt es sich bei ihnen um rivalisierende, lokale Clans. Die UN wirft ihnen schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Zivilisten werden aufgrund ihrer Stammeszugehörigkeit getötet und Wohngebiete mit schweren Waffen beschossen. Amnesty International berichtet, dass Gefangene systematisch gefoltert und Flüchtlinge verfolgt und ermordet werden. Sogar der frühere Ministerpräsident Ali Seidan war vor den Milizen nicht sicher und wurde im Oktober 2013 während seiner Amtszeit kurzzeitig entführt.
Die Gründe für den Aufstieg der Milizen sind vielfältig. Begünstigt wurde er durch das Machtvakuum, das der Bürgerkrieg 2011 hinterlassen hatte. Der vom Westen unterstützte Übergangsrat war lange Zeit durch keine Wahlen legitimiert. Ihm unterstanden nicht einmal Armee oder Polizei, die seinen Führungsanspruch hätten durchsetzen können. Die Polizei war unter Gaddafi von Eliteeinheiten unterwandert gewesen, die jetzt nicht mehr existierten. In der Folge war der gesamte Sicherheitsapparat zusammengebrochen. Die Milizen konnten dieses Vakuum durch ihre militärische Überlegenheit füllen.
Es gibt etwa 200.000 Milizionäre. Dagegen umfassen die offiziellen Streitkräfte rund 35.000 Soldaten. Jede libysche Übergangsregierung war bisher auf Unterstützung durch verschiedene Milizverbände angewiesen. Damit untergruben sie ihre eigene Selbstständigkeit und wurden abhängig von den Milizen, die ihre eigenen Interessen verfolgten. Lange Zeit konnten sie sich die Mitarbeit ausgewählter Milizen mit Geldern aus der Ölförderung erkaufen. Doch 2013 begannen Milizen die Kontrolle über die Ölfelder selbst zu übernehmen. Unter den Bewaffneten befanden sich auch jene, die die Regierung eigentlich zur Bewachung der Ölfelder angestellt hatte.
Derart chaotische Verhältnisse intensivierten sich in den letzten Monaten. Die Milizen wurden von einem Machtkampf zwischen Säkularen und Islamisten innerhalb der Regierung gestärkt. Islamistische Milizen in Benghazi erhielten große Summen an Staatsgeldern und verübten gleichzeitig Anschläge auf säkulare Teile der regulären Armee, bei denen bislang 400 Soldaten starben.
Mit den Islamisten verbündete Milizen belagerten im Frühjahr 2013 das Kongressgebäude solange, bis zu ihren Gunsten über ein Gesetz abgestimmt wurde. Im Februar 2014 rächten sich säkulare Milizen, in dem sie das islamistisch geprägte Parlament stürmten und absetzten.
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Genau in diese undurchsichtigen Staatstrukturen investierten unterschiedliche internationale Akteure bisher hunderte Millionen Euro, um Regierung und Milizen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei scheinen die nach dem Sturz Gaddafis völlig zerfallenen Militärstrukturen eine Art Versuchsfeld für internationale Sicherheitsstrategien darzustellen. Italien, Großbritannien, die Türkei und die USA haben sich verpflichtet, 15.000 libysche Soldaten und Offiziere auszubilden. Diese könnten, beeinflusst von den ausländischen Ausbildern, den Kern der zukünftigen Streitkräfte in Libyen bilden. Zur gleichen Zeit führen nach Angaben der französischen Zeitung „Le Figaro“ als Beduinen getarnte US-Spezialkommandos „Anti-Terror-Operationen“ im Süden Libyens durch. Dabei richten sich die Anti-Terror-Operationen gegen dieselben militanten Islamisten, die zum Sturz Gaddafis noch von NATO-Luftangriffen unterstützt wurden und erst durch den Krieg gegen Gaddafi einen großen Aufschwung in Libyen erlebten.
Während westliche Akteure in den vergangenen Jahren versucht haben, säkulare und neoliberale Kräfte in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten Algerien und Ägypten zu fördern, investierten Geldgeber aus arabischen Golfstaaten und der Türkei große Summen in islamistische Kräfte. Ein ehemaliger libyscher Ministerpräsident warf dabei explizit Katar und der Türkei die Finanzierung und Aufrüstung hunderter Milizen vor.
Die EU investierte derweil in den Aufbau von libyschen Grenzschutzeinheiten. EU-Polizisten sollen im Rahmen dieser Mission Sicherheitskräfte ausbilden, die sowohl die Landgrenze durch die Sahara als auch die Seegrenze durchs Mittelmeer absichern. Bis zu 20 deutsche Polizisten waren bisher daran beteiligt. Bei dem Projekt stehen europäische Interessen im Vordergrund. Insbesondere die Abwehr von afrikanischen Flüchtlingen spielt eine bedeutende Rolle. Die EU scheint damit an die Zeit der Zusammenarbeit mit Gaddafi anknüpfen zu wollen. Damals hielten libysche Sicherheitskräfte noch die meisten afrikanischen Flüchtlinge teils gewaltsam davon ab, durch Libyen übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Angesichts der schweren Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge, die libyschen Soldaten und Milizionären vorgeworfen werden, verstößt die Zusammenarbeit eklatant gegen die proklamierten humanitären Grundsätze der EU.
Darüber hinaus wurde geplant, tausende Kämpfer der Milizen in die Grenzschutztruppen zu integrieren, um sie unter Kontrolle bringen zu können. Dabei arbeitete die EU mit dem libyschen Innenministerium zusammen. Einheiten desselben Innenministeriums sollen allerdings in die Entführung des ehemaligen Regierungschefs Ali Seidan im Oktober 2013 verwickelt gewesen sein. Inzwischen ist das Grenzschutz-Projekt der EU durch die aktuellen Kämpfe in Libyen lahmgelegt. Das Ganze verdeutlicht, wie unberechenbar die Operationen ausländischer Akteure in Libyen sind. Das hindert sie jedoch nicht daran, weitere Militärprojekte auszuprobieren. So drängt Frankreichs Verteidigungsminister gerade auf eine neue Intervention im Süden Libyens, die angesichts der Zustände jedoch nicht deeskalierend und erfolgsversprechend erscheint.
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Noch bis vor ein paar Monaten ignorierten sowohl westliche Medien, als auch westliche Politik fast durchweg den Terror, der das Wüstenland seit dem Bürgerkrieg 2011 überzogen hat. Die Grausamkeiten der Milizen brachen jedoch nicht plötzlich über Libyen herein. Sie deuteten sich bereits im Bürgerkrieg 2011 an. Schon zu Beginn der Aufstände gegen Gaddafis Regime gab es Berichte über Lynchjustiz und Massaker durch radikale Rebellengruppen. Später wurden Städte wie Bani Walid und Sirte, die lange Widerstand gegen die Rebellen leisteten, systematisch geplündert und zerstört, aber die Weltöffentlichkeit verschloss die Augen davor. Die Verbrechen der Rebellen passten nicht in das Schwarz-Weiß-Bild, mit dem damals der Krieg beurteilt wurde. Im Spätsommer 2011, noch während der NATO-Intervention, betrieben die verbündeten Misrata-Brigaden in Tawergha ethnische Säuberungen an dunkelhäutigen Libyern. Sämtliche 30.000 Einwohner wurden vertrieben und die Stadt wurde vollkommen zerstört. Etwa 1.300 Menschen wurden verschleppt und verschwanden für immer in den Geheimgefängnissen von Misrata, die bis heute existieren.
Für das Ziel, Gaddafi zu beseitigen, sah die westliche Politik über sämtliche Verbrechen hinweg, die ihre Verbündeten in Libyen begingen. Alle Staaten, die sich an der Eskalation des Bürgerkriegs in Form der NATO-Intervention beteiligten, sind deshalb für die Gewalt der Milizen mitverantwortlich. Anstatt wie die Afrikanische Union Verhandlungen zwischen dem Regime und den Rebellen anzustreben, wurden die Rebellen militärisch unterstützt und der Krieg vorangetrieben. Schwere Waffen der regulären libyschen Streitkräfte gelangten durch Plünderung der Lager in den Besitz der heutigen Milizverbände. Zusätzlich erhielten sie Waffenlieferungen von Frankreich, Großbritannien, den USA und arabischen Golfstaaten. Die verschiedenen Milizen weigerten sich, ihre Waffen abzugeben und die Übergangsregierungen waren nicht fähig oder willens, sie zu entwaffnen. Warum die westlichen Militärmächte trotzdem darauf vertrauten, dass sich Libyen nach dem Bürgerkrieg 2011 stabilisieren würde, ist schwer nachzuvollziehen. Nach dem Sturz Gaddafis knüpften die Militärmächte enge Kontakte zu den neuen libyschen Machthabern im Übergangsrat und versuchten, einen neuen Sicherheitsapparat aufzubauen. Dabei unterschätzten sie offenbar die Macht der hochgerüsteten Milizverbände.
Inzwischen erscheint Libyen wie ein gescheiterter Staat. Doch die Ratlosigkeit gegenüber den libyschen Konflikten bedeutet nicht, dass die internationalen Militärmächte das reiche Land an der Grenze zur EU aufgegeben haben. Ihre Strategie fasst Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik nüchtern zusammen: Libyen sei im Moment in einer Phase, in der sich interne libysche Machtkämpfe ausspielen und sich klarere Kräfteverhältnisse ergeben müssten. Mit anderen Worten wird darauf gewartet, dass der Milizenkrieg irgendwann neue, politische Partner hervorbringt. Bis dahin kann das Land weiter als Übungsfeld für verschiedene Militärprojekte herhalten.
Ob mit dieser Strategie in den nächsten Jahren wieder Frieden in Libyen entstehen kann, bleibt äußerst fraglich. Libyen werde ein neues Afghanistan, wird ein Milizenführer zitiert. Militante libysche Islamisten kämpfen bereits auf der Seite des Islamischen Staates im Irak und könnten Libyens Bürgerkrieg weiter entfachen. Die Bevölkerung Libyens und die Flüchtlinge, die das Land auf dem Weg nach Europa durchqueren, werden wahrscheinlich noch lange Zeit Krieg und Gewalt ausgesetzt sein.
Aus IMI-Analyse 2014/030. Mehr Informationen unter http://www.imi-online.de
Schlagwörter: Informationsstelle Militarisierung, Katar, Libyen, Marius Hager, militärische Zusammenarbeit, Milizen, NATO, Türkei