17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Massengrab. Mittelmeer

von Eckhard Mieder

Das Meer voll mit Ertrunkenen bleibt
eine ungesättigte Lösung: Es brauchte mehr als alle Menschen
derzeit auf der Welt, getaucht und gestaucht
in dieser Schüssel, dass jemand trockenen Fußes auf leicht
glitschigem Grunde von Marokko
nach Gibraltar laufen könnte oder
zu irgendeiner italienischen Insel aus einem
Kaff da in Afrika.

Ich stand schon mal im Mittelmeer.
Bis zum Gemächt im öligen Wasser
an einem Strand in Israel
am Beginn meiner Weltbürgerschaft.
(Einen Monat später wurde Rabin erschossen.)

Ein paar Meter neben mir,
ich sah’s verwundert, überrascht, fand’s meschugge,
Stand im Wasser eine Frau.
Bekleidet von unten bis oben,
ihr schwarzes Gewand umwogte sie sacht und glänzte,

während ein Knabe, ihr Sohn vermutlich,
nackt nach imaginären Fischen sprang
und sich die Seele vor Glück und Wonne
aus dem Leibe schrie.
(Einen Monate später wurde Rabin erschossen)

Ich las von einer geretteten Afrikanerin,
hochschwanger begann sie die Überfahrt,
sie gebar, nachdem sie aufgefischt wurde,
unverzüglich ein Kind.

Ich las, dass die Zahl der Toten
unklar sei: Es mangelt auf dieser Welt
an Katastrophen nicht, aber
an der Buchhaltung.

Nicht mal der Name des Kindes
wird gemeldet, nicht mal, ob es
ein Staatsbürger oder ob es
jeden Staat los ist.

17.9.2014