von Mathias Iven
Ob man es will oder nicht: an Karl May führt kein Weg vorbei. Die mehr als 90 Bände umfassenden Gesammelten Werke haben inzwischen Leser auf der ganzen Welt gefunden und eine Millionenauflage erreicht. Dass man sich, zumal als Schriftsteller, zu ihm bekennt, ist eine ganz andere Sache. Wie viele andere vor ihm – denken wir an Thomas Mann oder Ernst Bloch, an Arno Schmidt oder Bertolt Brecht, an Carl Zuckmayer oder Erich Mühsam – so hat sich nun auch Josef Winkler als Karl-May-Leser geoutet.
Eine erste Begegnung hatte der 2008 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete österreichische Autor Mitte der sechziger Jahre. In Ferndorf, einer kleinen Ortschaft in Kärnten, stand Winnetou I auf dem Spielplan des Lichtspieltheaters. Wieder und wieder bestürmte er den Vater: „Tate! Darf ich mit dem Lehrer ins Kino gehen?“ Der willigte schließlich ein, und so fuhr der Junge gemeinsam mit seinen beiden Freunden – den Söhnen des Lehrers – und deren Vater ins 15 km entfernte Kino. Der Vorhang öffnete sich, zunächst kam die Wochenschau und dann …
„Bitte ein Karl-May-Buch!“ Old Shatterhand auf der Leinwand – gut und schön. Eines Tages stand die Volksschullehrerin vor Winkler, sie hatte das Buch, 18 Schilling hatte es gekostet. Der Junge erbat sich das Geld von der Mutter, doch die erklärte ihm: „Für Bücher haben wir kein Geld!“ Was tun? Das Angebot vom „Buchclub der Jugend“, Bücherlose zu verkaufen, kam genau im richtigen Augenblick. Winkler „verkaufte mehr Lose als meine Schulfreunde und -feinde“. Doch von seinem Verdienst kaufte er sich nicht etwa ein Karl-May-Buch. Er entschied sich für Der glückliche Prinz von Oscar Wilde. „Es war“, so Winkler, „das erste Buch, das ich überhaupt las und das auch mein allererstes Buch war.“
Die Zeit verging. Ein Halbjahrzehnt später: Winkler besuchte die Handelsschule in Villach, da trat Karl May erneut in sein Leben. Zur Ausbildung gehörte Maschineschreiben – eine Fingerfertigkeit, die man am besten mit einer eigenen Schreibmaschine lernt. Und eines Tages stand sie vor ihm: eine Brother de luxe, für die der Vater mehrere Tausend Schilling seines hart erarbeiteten Verdienstes investiert hatte. Bald gehörte Winkler zu den Besten seiner Klasse. Jeden Abend übte er. Was schrieb er? Vor ihm lag Winnetou III und er „begann damit, die Sterbepassage abzutippen, das Zehnfingersystem am Tod Winnetous zu erproben“.
Nicht, dass Winkler nur Karl May las. Zur selben Zeit hielt er eines Tages „Die Pest“ von Albert Camus in der Hand. Und „spätestens beim Lesen dieses Buches“ war für ihn klar, „daß ich mich von nun an mit Literatur beschäftigen würde“. – Dass Karl May doch noch einmal dazwischen kommen und ihm sogar den Lebensunterhalt sichern würde, ist eine andere Geschichte …
Winkler erinnert sich in seinem Buch aber nicht nur an die Begegnungen mit Karl May und die von Sascha Schneider für die Fehsenfeld-Ausgabe gestalteten Titelbilder (die fast vollständig in dem Band wiedergegeben werden) – er wird auch zum Nacherzähler. Ausgesucht hat er sich dafür die Bände Winnetou I und II, die Erzählung Weihnacht und Winnetou III. Wie eingefleischte Karl-May-Kenner die zwischen 7 und 17 Seiten umfassenden Zusammenfassungen bewerten, lassen wir einmal dahingestellt. Ein interessanter Einstieg in die Gedankenwelt Mays ist es allemal – aber vielleicht hätte Winkler uns doch noch mehr von sich und seiner Kärtner Indianerkindheit erzählen sollen.
Josef Winkler: Winnetou, Abel und ich, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 143 Seiten, 16,95 Euro.
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