von Ludwig Marcuse
Niemand machte mich politisch so wach wie der Herausgeber der „Weltbühne“. Ich bin nie von Parteien und elektrisierenden Vokabeln beeinflußt worden, immer nur von Vorbildern. Das entscheidende war damals: Carl von Ossietzky. Es war im Beginn des Jahres 1932. Die Redaktion seiner ´Zeitschrift´ lag in der Nähe des Bahnhofs Zoo. Der Herausgeber saß an einem langen Tisch; links ein riesiger Stapel von Zeitungen, rechts ein kleinerer Berg von Manuskripten. Er zündete sich eine Zigarette an der anderen an; wenn er sie sorgfältig über die kleine gelb-rote Flamme hielt, zitterten seine Hände. Er blickte meist hinunter auf die Knie. Selten hob er die starke Nase und das schwere Kinn. Dann streiften scheue, stahlblaue Augen das Gesicht dessen, mit dem er sich unterhielt. Seine Worte, dünn und hart, standen in krassem Widerspruch zu diesem schnellen, etwas flüchtigen Blick; sie waren bestimmt, schneidend, von trockenem, grimmigem Witz.
Unser Gespräch ging um die Frage, ob er die Gefängnis-Strafe hinnehmen solle, die ihm das oberste deutsche Gericht zudiktiert hatte; ihm stand noch der Weg ins Ausland offen. Sein großer Gegner, die deutsche Reichswehr, hatte es endlich geschafft, ihn für achtzehn Monate hinter Schloß und Riegel zu bringen. Die Armee der Republik, die nach dem Versailler Vertrag nur klein sein durfte, hatte sich illegale Organisationen geschaffen; sie hatten sich zuerst in Gestalt von Freikorps betätigt, die in Oberschlesien gegen die Polen fochten, dann (1923) bei den Ruhrkämpfen. Ossietzky hatte seine Aufgabe darin gesehen, diese geheime Rüstung aufzudecken, weil er in ihr eine Bewaffnung gegen die Republik und ein Mittel zum Revanche-Krieg sah. Als dann aus dieser Schwarzen Reichswehr die Feme-Morde hervorgingen, brachte eine Artikel-Serie über die Opfer, die im Küstriner Moor höchst unfeierlich verscharrt worden waren, die wirkliche Macht hinter der Republik gegen ihn auf. Der Kriegsminister hatte Strafantrag gestellt. Doch noch war dem Angeklagten zugebilligt worden, daß er sich (wie es hieß) „um die Aufdeckung eines Krebsschadens“ bemüht habe.
Da erschien 1929 in der „Weltbühne“ ein Artikel „Windiges aus der Luftfahrt“. Eben noch hatte Ossietzky dem Reichswehrminister Groener, der in einem Blatt der Schwerindustrie den Pazifisten Gewinnsucht vorgeworfen hatte, geantwortet: „Ich habe noch niemand gekannt, der sich zur Stillung seiner Geldgier auf Erhaltung des Friedens geworfen hätte.“ Aber es wurde schon nicht mehr mit Argumenten gekämpft. Am 23. November 1931 verurteilte der vierte Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig Ossietzky zu achtzehn Monaten Gefängnis. „Wir haben nichts zurückzunehmen“, antwortete der Verurteilte. Höhnisch fügte er hinzu: „Anderthalb Jahre Freiheitsstrafe? Es ist nicht so schlimm; denn es ist mit der Freiheit in Deutschland nicht so weit her. Mählich verblassen die Unterschiede zwischen Eingesperrten und Nicht-Eingesperrten. Jeder Publizist der in bewegter Zeit seinem Gewissen folgt, weiß, daß er gefährdet lebt. Die beste politische Publizistik wurde stets heimlich in Dunkelkammern geschrieben, nächtlich an Mauern geklebt, während Denunzianten durch die Straßen schlichen und auf den großen Plätzen die Soldaten in Karrees standen.“
Als ich zu Beginn des Jahres 1932 Ossietzky bat, ins Ausland zu gehen, sich nicht freiwillig unter die Stiefel des feindlichen Militärs zu legen, argumentierte ich (wie viele seiner Freunde): „Rennen Sie nicht in Ihre Höhle. Sie werden nie wieder herauskommen. Sparen Sie Ihr Leben für den Kampf. Draußen ist Ihre Feder eine Macht. Geben Sie diese Macht nicht aus der Hand.“ Das Argument, das er mir entgegenhielt, war dasselbe, das er dann in dem Artikel „Rechenschaft“ veröffentlichte: „Der Oppositionelle, der über die Grenzen gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen … Es gibt draußen viele flotte Herren, die gerne den Frieden hochleben lassen, wenn sie ihr neues Militär-Programm glücklich durchgedrückt haben, und die den deutschen Militarismus so verabscheuen, als wäre er der einzige in der Welt. Wollte der geflüchtete antimilitaristische Deutsche in ihrem Schatten gegen seine Generale und Bellizisten schreiben, das hieße, seiner Arbeit einen falschen Akzent geben. Denn dann dient er gewollt oder ungewollt einem fremden Interesse. Er wird eines der Mundstücke fremder Propaganda. Er muß zu dem schweigen, was er sieht.“
Die Gefahr dieser Sätze war, daß sie allen Intellektuellen, die aus Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit das Land nicht verlassen wollten, als moralische Überhöhung dienen konnten. Die größere Gefahr ist auch heute noch, daß die Sätze falsch sind. Der Schriftsteller kann zwischen den Fronten stehen, der Politiker kann es nicht. Er muß Allianzen schließen; und Bundesgenossenschaften sind meist Identifizierung mit Mächten, von denen man sich eher distanzieren möchte. Was Ossietzky schrieb, war nobel – und unpolitisch. Vielleicht auch gerade noch wahr 1932, als ein Kampf noch möglich war. Ein Jahr später lautete die Alternative schon: schweigen, schweigen müssen – oder ungehindert reden, gedeckt von einer Interessengemeinschaft, die sich moralisch verkleidet hatte.
Ossietzky floh nicht. Er trat seine Strafe an. Am 10. Mai 1932 versammelte sich am Nollendorfplatz in Berlin eine kleine Schar von Freunden. Zwanzig Autos, geschmückt mit den Fahnen der Republik, standen bereit, uns nach Tegel zu fahren. In der Nähe des Gefängnisses war ein kleines, kümmerliches Gehölz. Hier nahmen wir Abschied – für achtzehn Monate. Werden die Generäle ihren energischsten Gegner je wieder herauslassen? Es wurden Reden gehalten. Es wurde photographiert. Mit leiser, scharfer Stimme sagte Ossietzky: Das Echo meines Falles wird, so hoffe ich, von Nutzen sein für achteinhalbtausend politische Gefangene. Dann schloß sich das Tor. Es fiel dem leidenschaftlichen Raucher schwer, ohne Zigaretten zu sein. Sein Magen rebellierte gegen das Essen, das mit einem Mittel zur Niederschlagung unzeitgemäßer Triebe versetzt war. In freien Stunden studierte er den Doktor Luther, um die Legende zu entkräften.
Dann kam er schneller heraus, als irgend jemand erwartet hatte; obwohl er selbst noch im Verlies der Armee gewagt hatte, den hohen Gefängnis-Wärter, die Reichswehr, zu reizen. Als Häftling mußte er vor Gericht erscheinen, um einen Artikel seines Mitarbeiters Tucholsky zu verantworten. Im Gefängnisdrill nannte er diesen Prozeß „ein Kesseltreiben des Reichswehrministeriums gegen die Pazifisten“ und versprach: „Ganz gleich wie das Urteil ausfällt, ich werde mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln für die Idee weiterkämpfen, die ich für recht erkannt habe.“ Mußte die Armee sich nicht sagen: was wird er erst schreiben, wenn er wieder draußen ist?
Damals, Mitte 1932, herrschte politisches Aprilwetter. Jeder Tag zeigte eine neue Hoffnung oder eine neue Hoffnungslosigkeit. Ende des Jahres atmete man leichter als seit Monaten. Ossietzky, angeklagt wegen eines Tucholsky-Satzes, wurde freigesprochen. Um Weihnachten kam ihm sogar eine fromme Amnestie zugute. Er durfte Tegel vorzeitig verlassen. Als wir ihn um die Jahreswende in seiner Redaktion feierten, waren viele Gäste sehr hoffnungsvoll gestimmt. Ossietzky weniger, dafür aber sehr kriegerisch. Sein erster Artikel schmetterte in den unsicheren Tag: „Die Sitzung geht weiter, der Kampf geht weiter!“
Er ging nur noch wenige Wochen weiter.
Aus: Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Copyright © 1975 Diogenes Verlag AG Zürich. (Die Orthographie des Originals wurde beibehalten.)
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Carl von Ossietzky, Ludwig Marcuse