von Mario Keßler
Ohne seine Tabakspfeife sah man ihn so selten wie Helmut Schmidt ohne Zigarette. Wie der Altkanzler gehörte Wolfgang Leonhard zur Kriegsgeneration, doch unterschieden sich seine Erfahrungen himmelweit von denen seiner meisten deutschen Zeitgenossen. Dem Nazireich vermochte er zu entfliehen. Stattdessen prägten ihn die Jahre im Lande von Hitlers Verbündeten auf Zeit und späterem Todfeind Stalin lebenslang.
Geboren wurde der zunächst nach Lenin Wladimir genannte Leonhard am 16. April 1921 in Wien. Dort arbeitete seine deutsche Mutter Susanne für die Presseabteilung der Komintern. Sie war kurz mit Mieczysław Broński, dem damaligen Sowjetbotschafter in Österreich und Vater Leonhards, verheiratet. Dieser wuchs jedoch in der Annahme auf, sein Vater sei der expressionistische Lyriker und Dramatiker Rudolf Leonhard.
In Berlin im linken Umfeld aufgewachsen, emigrierte er 1935 über Schweden nach Moskau, wohin auch seine Mutter gelangte. Dort erhielt er an der Karl-Liebknecht-Schule eine gediegene Ausbildung, doch auch eine strikte Schulung in stalinistischer Ideologie. Er „schluckte“ selbst die Tatsache, dass seine Mutter als angebliche Volksfeindin 1936 verhaftet wurde und ins Lager kam. Leonhard besuchte Fremdspracheninstitute in Moskau und Karaganda. Zunächst bei der Komintern tätig, arbeitete er nach deren Auflösung ab 1943 für den Rundfunksender des Nationalkomitees Freies Deutschland.
Seine überaus rasche Auffassungsgabe blieb nicht unbemerkt. Als politisch zuverlässig geltend, kam er im Mai 1945 mit der Gruppe Ulbricht als einer der ersten kommunistischen Kader ins befreite, doch kriegszerstörte Berlin. Walter Ulbricht riet ihm, den russischen Namen Wolodja abzulegen. Von nun an hieß er Wolfgang. Nach verschiedenen Funktionen lehrte er ab 1947 an der SED-Parteischule in Kleinmachnow. Dort traf er seine Mutter wieder, die nach Intervention Wilhelm Piecks bei Stalin aus dem Lager entlassen worden war. Stets unterschied Leonhard strikt zwischen den moralischen Qualitäten Piecks und Ulbrichts.
Der sich abzeichnenden steilen Parteikarriere setzte Wolfgang Leonhard 1949 selbst ein Ende. Er floh in Titos Jugoslawien. Am Sender Belgrad vermittelte er in deutschsprachigen Programmen die grundlegenden Unterschiede zwischen Stalins brutaler Diktatur und Titos Suche nach einem Sozialismus, der auf der Arbeiterselbstverwaltung beruhte. 1950 ging er in die Bundesrepublik, wo inzwischen auch seine Mutter lebte. Sein Bestreben, mittels der Unabhängigen Arbeiterpartei, einer kurzlebigen Linkspartei, im Sinne eines „titoistischen“ Sozialismus politisch zu wirken, blieb ohne Erfolg.
Durchschlagenden Erfolg hatte er hingegen als politischer Publizist und Wissenschaftler. 1955 erschien sein Lebensbericht „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Darin schilderte er sachlich das Leben in der Sowjetunion, doch auch, wie er und viele andere Jungkommunisten so erzogen wurden, dass sie bei allen Verbrechen an der „großen Sache“ zunächst nicht zweifelten. Das Buch war einer der ersten authentischen Berichte aus der Lebenswirklichkeit der vom Westen noch immer abgeschotteten Sowjetunion. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und ermöglichte seinem Autor eine postgraduale Ausbildung am St. Anthony’s College in Oxford. Dies wurde der Einstieg in die akademische Welt, die Wolfgang Leonhard schließlich zur Professur für Sowjetstudien an der Yale University in den USA führte.
Es war und blieb eine „halbe“ Professur, denn Wolfgang Leonhard wollte stets das andere halbe Jahr in Europa leben, wo er sich dem Zeitgeschehen der kommunistischen Welt näher fühlte. In Manderscheid in der Eifel bauten er und seine Frau Elke, Bundestagsabgeordnete der SPD, ihr Haus zum Archiv für zeitgenössische Kommunismusforschung aus. Leonhard wurde fester Kolumnist für Die Zeit, und zum TV-Stammgast in Werner Höfers sonntäglichem Internationalen Frühschoppen. Die von der ARD ausgestrahlte Journalisten-Runde fand viele Zuschauer in der DDR, wo Leonhard natürlich als Renegat galt.
Dies war er keineswegs. In der Bundesrepublik verstand er sich nicht mehr als Kommunist, doch als unabhängiger Linker. Seine genaue Kenntnis der Sowjetunion und der entstehenden DDR schützte ihn sowohl vor Blauäugigkeit als auch vor der Rolle als Kalter Krieger. Indes ist unübersehbar, dass nach der Entmachtung Nikita Chruschtschows 1964 Leonhards Kommentare schärfer und bissiger wurden. Er unterstützte die neue Ostpolitik der SPD unter Willy Brandt, warnte aber vor der Illusion, politische Zugeständnisse würden den diktatorischen Charakter der Sowjetunion ändern.
Eine grundlegende Änderung könne nur von innen und nur durch aufgeklärte Kommunisten erfolgen. Leonhard weigerte sich entschieden, der populären Lesart zu huldigen, nach der alle Kommunisten grundsätzlich verdammenswert seien. Diese mit Verve und einer Batterie an Fakten vorgetragene Erkenntnis untermauerte er in einer Vielzahl von Büchern. So folgte einer Chruschtschow-Biographie 1970 sein vielleicht wichtigstes zeithistorisches Werk über „Die Dreispaltung im Kommunismus“. Die Sowjetunion, China und die westeuropäischen kommunistischen Parteien seien auf lange Sicht nicht mehr unter einem ideologischen Dach zusammenzuhalten, schrieb er. Der Eurokommunismus, dem Leonhard 1978 gleichfalls eine Monographie widmete, bestärkte ihn darin ebenso wie der Aufstieg Michail Gorbatschows.
Der scharfe Kritiker der DDR wurde von ihrem Zusammenbruch weniger überrascht als andere. Stets aber warnte er vor jeder Überheblichkeit im Westen. Die „Abwicklung“ von Industrie und Wissenschaft der Ex-DDR sah er ebenso als Katastrophe an wie die politische Ausgrenzung der PDS. Als andere sich von der Paria-Partei abwandten, wurde der rhetorisch ungemein begabte Zeitzeuge zum oft gesehenen Gast auf ihren politischen Veranstaltungen.
Bis fast zuletzt analysierte und kommentierte er die Entwicklung im postsowjetischen Raum – stets in packender Diktion. Er sah in Wladimir Putins „gelenkter Demokratie“ sowohl einen Weg zur politischen Stabilisierung Russlands wie zur gefährlichen Renaissance autoritärer Ideen. Bis ihn infolge schwerer Krankheiten die Kräfte verließen, warnte er leidenschaftlich vor einer schleichenden und gar offenen Rehabilitierung Stalins. Wolfgang Leonhard starb am 14. August 2014 93-jährig in einer Klinik in Daun an der Eifel.
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