von Hermann Fernau
26. Juli
Man ist erstaunt, dass die deutschen Zeitungen so offen und rückhaltlos Partei für den österreichischen Verbündeten ergreifen. Man erwartet fieberhaft die Antwort Serbiens auf das Ultimatum. Das allgemeine Gefühlt ist, dass Berlin in der letzten Minute seinen übereilten Wiener Freund zurückhalten und vor Dummheiten bewahren wird. Wien ist der Vasall Deutschlands, hört man in den Unterhaltungen. Ein Wink aus Berlin und Wien wird nicht bis zum Friedensbruch gehen. – Einigermaßen erleichternd wirkt die Erklärung der Berliner Presse, dass man den Text des Wiener Ultimatums nicht gekannt habe und davon ebenso überrascht gewesen sei wie die anderen Völker.
Herr von Schoen, der deutsche Gesandte, unterbricht seine Ferienreise und kommt nach Paris zurück. – Man meldet ferner, dass der Präsident Poincaré und der Ministerpräsident Viviani ihren Besuch in Kopenhagen abgesagt haben und ihre Heimkehr beschleunigen. Auf den Boulevards rotten sich einige junge Leute der „Action francaise“ und der „Ligue des Patriotes’“ zusammen und singen die Marseillaise. Das Publikum begafft sie, ohne zu applaudieren. Offenbar hält niemand einen Krieg für möglich und noch weniger für wünschenswert.
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27. Juli
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Die Pariser Bevölkerung ist nervös. In den Abendstunden sind die Arbeiter der Faubourgs auf die Boulevards hinuntergestiegen und tausendfältige Rufe „Nieder mit dem Krieg“, „Es lebe der Friede“ werden laut. Die Arbeitsbörse hat die Gewerkschaften zu einer Riesendemonstration für den Frieden zusammengerufen und die Boulevards sind ein riesiges Menschenmeer, das sich bei aller Vorliebe für den Weltfrieden recht kriegerisch benimmt. An allen Ecken und Enden erschallt die „Internationale“. Das Ganze macht einen nervösen und doch grandiosen Eindruck. Verschiedene Redner sind auf die Promenadenbänke gestiegen und sprechen lebhaft gegen die Absurdität eines möglichen Krieges. Das Wort Frieden, der heiße Wunsch nach Frieden lagert über dieser Menge. Leider duldet die Polizei solche Kundgebungen nicht und unter ihrer ruhestiftenden Tätigkeit artet die Demonstration für den Frieden fast in eine Revolution gegen den Krieg aus. Die Terrassen der Boulevardcafés werden gestürmt, Scheiben klirren, Zeitungsbuden werden umgerissen, Schutzmannssäbel erheben sich drohend und die Fäuste der Demonstranten antworten so gut sie können. Der Tumult ist unbeschreibbar. Neben mir im Gedränge wischt ein Arbeiter mit dem Taschentuch über seine blutende Hand: „Man nennt sie Friedenswächter (gardiens de la paix)“, sagt er ingrimmig, „warum also sind sie mit uns so brutal, da wir doch für den Frieden demonstrieren?“
Etwas ist in dieser Menge, was man noch nicht genau unterscheidet, was aber im schärfsten Gegensatz zu den Demonstrationen der „weißen Blusen“ im Juli 1870 steht und was wie eine Revolte gegen den Krieg aussieht. Selbst der Erzreaktionär und Bonapartist Paul de Cassagnac tadelt heute in seiner Zeitung die gestrigen Kundgebungen der Royalisten zugunsten des Krieges. „Frankreich ist friedlich bis zum letzten Kuhhirten“, habe ich früher gelegentlich geschrieben. Ich halte diesen Satz mehr denn je aufrecht.
28. Juli
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Es ist plötzlich unmöglich geworden, Geldpapier zu wechseln und das Goldgeld ist wie durch Zauberei aus dem Verkehr verschwunden. Augenscheinlich halten die Banken alles erreichbare Metallgeld zurück. Der beste Beweis, dass die maßgebenden Stellen keine Zeit mehr zum Optimismus haben. Auch die Börse teilt diesen Pessimismus; die Kurse aller Papiere sind heute panikartig zurückgegangen.
Die Abendzeitungen bringen pessimistische Nachrichten. Man reißt sie den Ausrufern aus den Händen und liest sie fieberhaft. Die Gruppen diskutieren lebhaft: „Wenn Österreich … Mobilmachung …. Elsass-Lothringen …Italien neutral … Wilhelm II. … ist Pazifist“ hört man im Vorübergehen. Im Restaurant höre ich jemand sagen, dass man den Dickköpfen (boches) die Schnauze einschlagen wird. Alle Welt lächelt und protestiert ironisch. Niemand glaubt im Ernst an die Möglichkeit eines deutsch-französischen Krieges. Alle Welt ist aufgeregt; jeder diskutiert und macht Vorschläge. Nur die Frauen schweigen und denken. Woran denken sie?
31.7.
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Fluch und Schande! Man hat Jean Jaurès ermordet. Ein Verrückter hat das Gehirn Frankreichs mit zwei stupiden Revolverkugeln vernichtet. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich diese unglaubliche Nachricht um 11 Uhr abends über die Boulevards. Diese Wahnsinnstat wirkt verblüffender auf die erregte Menge als eine Kriegserklärung. Niemand begreift, alle stehen verwundert, keiner findet eine Erklärung; am meisten hört man noch auf die, die von einer Ente reden. Aber nein; da schreien sie wieder eine Extraausgabe durch die Straßen mit der zentimetergroßen Aufschrift: „Jaurès assasiné“! Die Leute stürzen sich auf die Zeitungsjungen und zahlen den doppelten und dreifachen Preis für das Blatt.
Die Tat ist unweit von dem Ort geschehen, wo ich mich befinde. Ich bahne mir einen Weg durch die aufgeregte Menge. Vor den Redaktionsbureaux (sic!) der „Humanité“ (der Zeitung von Jaurès) ist eine ungeheure Menschenmenge versammelt. Die Frauen weinen, die Männer räuspern sich und unterdrücken ihre Bewegung. Ich treffe einen befreundeten Redakteur. Und während von oben herunter ein sozialistischer Abgeordneter die Menge zur Ruhe ermahnt, während die Menge trotzdem ruft: „Vive Jaurès“, „Vive la paix!“ und die „Internationale“ aus tausend Kehlen aufklingt wie ein dumpfer Schmerzensschrei, erklärt er mir die näheren Umstände dieser Mordtat; er führt mich in das Lokal, wo sie stattgefunden hat du das von Schutzleuten abgesperrt ist. Ich höre seine Erzählung wie geistesabwesend. Mir ist, als habe man mir den Tod meines Vaters oder eines lieben Verwandten gemeldet. Aber ich kann nicht weinen. Und während die Anwesenden in Verwünschungen gegen den Mörder und in Wehklagen über den Verlust ausbrechen, den ganz Frankreich in der Person dieses Mannes erleidet, bleibe ich stumm. Es ist mir nicht gegeben, große Schmerzen zu veräußerlichen. Aber etwas ist in mir, das würgt und das weinen möchte. Weinen um die letzte Chance, die der sterbende europäische Friede mit diesem Manne verliert.
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2. August
Ein Sonntag. Es regnet in Strömen. Und wohin ich blicke Tränen und Tränenspuren. Alle Mütter in Paris und Marseille, alle Mütter in Berlin und Köln, in Wien und Petersburg haben geweint. Alle Frauen und Schwestern der halben zivilisierten Welt haben geweint. Ein Regenstrom ist vom Himmel gefallen. Ein Tränenstrom erstickt und verfinstert das Licht der Weltstadt, das Licht aller Weltstädte, das Licht Europas. Europa in Flammen und Blut! Unsere durch Jahrhunderte mühsam erkämpfte Zivilisation erdrückt und zerstückt (sic!) durch Soldatenhorden und Kartätschenhagel. Am häuslichen Herd hat man vielleicht zum letzten Male miteinander gefrühstückt. Dann hat man noch mit einem Glase Wein oder Bier angestoßen und mit gekünstelter Heiterkeit „Auf Wiedersehen“ gesagt.
Alles was im Menschen schläft an guten und schlechten Instinkten ist verschwunden vor der Größe des alles überwiegenden Furchtgefühls und vor der gewaltsamen Begeisterung, in die man sich hineingezwungen hat. Denn jede Begeisterung und Tapferkeit beginnt mit einem Furchtgefühl. Diese langen, unübersehbaren Reihen von Reservisten, die ich da hinunter ziehen sehe dem Ostbahnhof zu, sie sind mit Angst und Furcht und wahrscheinlich auch mit Tränen von ihrem heim fortgegangen. Sie treffen unterwegs mit Gleichfühlenden zusammen. Aber keiner gesteht dem anderen sein wahres Gefühl. Keiner wagt zu bekennen, dass er einen unüberwindlichen Abscheu empfindet vor dem furchtbarsten aller Kriege, der nun beginnt. Keiner klagt. Der zivilisierte Mensch, der sich des Krieges schämt, ist verschwunden. Sie sind begeistert für Raub und Mord, für Zerstörung und Feuer, begeistert auch für das republikanische Vaterland, dem der preußische Junker dreißig Milliarden stehlen will, begeistert für die Brüder von Elsass-Lothringen, die 44 Jahre lang mit dem Säbel und der Faust „germanisiert“ worden sind und denen sie Freiheiten und Menschenrechte ihrer Republik zurückerobern werden. Und sie scherzen, singen und lachen – und trinken. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, wie der Dichter sagt. Sie ersäufen ihren Abscheu vor der Metzelei im Glase, die armen Soldaten des armen Europas.
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Der Schriftsteller und Journalist Hermann Fernau (1883-1935?) lebte und arbeitete von 1904 bis 1915 in Paris. Der leidenschaftliche Republikaner und Pazifist führte von Juli bis September 1914 in Paris Tagebuch, aus dem die vorstehenden Auszüge entnommen wurden. Fernaus Tagebuch liegt jetzt erstmals in Buchform in deutscher Sprache vor (Hermann Fernau: Paris 1914. Tagebuch eines deutschen Republikaners und Pazifisten [25. Juli-22. September 1914], Donat Verlag, Bremen 2014, 288 Seiten, 16,80 Euro). Wir danken dem Verlag für die freundlicherweise erteilte Abdruckgenehmigung.
Schlagwörter: Hermann Fernau, Jean Jaurès, Kriegserklärung, Paris