von Alfons Markuske
Wenn ich mich richtig erinnere, gehörte Lion Feuchtwanger zu der Zeit, als ich in der DDR die EOS besuchte (1967-71), nicht zum Kanon der Schullektüre, und so hatte ich von ihm, wiewohl damals schon nicht unbelesen, noch nie etwas gehört, als mich während meines Studiums in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ein Studentensommer nach Moskau führte und dort in das von örtlichen Kommilitonen hoch gelobte große fremdsprachige Antiquariat. Da gäbe es manches, was in der DDR rare Bückware sei, bisweilen sogar Westdeutsches, und die Preise seien ein Witz. Letzteres stimmte, von Bückware und Westdeutschem aber leider keine Spur.
Dass der Besuch dennoch, um ein heute gebräuchliches Wort zu bemühen, nachhaltige Wirkung hatte, lag schließlich daran, dass mein Blick an einem im Regal aufgereihten „Konvolut“ von Werken Lion Feuchtwangers hängen blieb. Den kannte ich zwar nicht, aber die Titel machten neugierig: „Die Füchse im Weinberg“, „Die hässliche Herzogin“, „Jud Süß“, „Erfolg“ … Und die Preise waren, wie schon gesagt … – für nicht einmal zehn Rubel erstand ich einen Bücherstapel, der das Gewicht meines studentischen Reisegepäcks bestimmt mehr als verdoppelte. Aber damals reisten wir mit der Bahn.
Ein weiterer Zufall sorgte dafür, dass der erste Titel, zu dem ich griff, nicht ein vergleichsweise sperriger war, etwa „Exil“, sondern „Die Jüdin von Toledo“. Und die schlug mich in ihren Bann, und damit hatte Feuchtwanger, was unser Verhältnis betrifft, gewonnen. Bis heute.
Veranlassung, sich an diese Episode zu erinnern, gab die Lektüre der unlängst erfolgten Neuveröffentlichung der Feuchtwanger-Biographie von Werner von Sternburg. Die war 1984, zum 100. Geburtstag des Schriftstellers, bereits erstveröffentlicht und später mehrfach nachverlegt worden. Jetzt hat sie der Autor unter Nutzung neuer Quellen, zum Beispiel aus russischen Archiven, die erst nach 1990 zugänglich wurden, gründlich überarbeitet. Ich kenne die Ursprungsfassung nicht, aber die jetzige ist ebenso profund (gespickt mit über 1.000 Originalzitaten), wie flüssig und spannend zu lesen.
Im Vordergrund stehen das literarische Werk Feuchtwangers und dessen lebenslanges politisches Engagement gegen Dummheit und Gewalt – so von Sternburg im Titel des Kapitels „Der Meisterin des historischen Romans“ – in den Kämpfen seiner Zeit, beginnend mit der Münchner Räterepublik 1919. Aber auch der Mensch Feuchtwanger, der anderen half, wenn es ihm zu Gebote stand, künstlerisch wie materiell, wird geschildert. „[…] dass der in den frühen 1920er Jahren schon einflussreiche Lion Feuchtwanger zu den entscheidenden Förderern des jungen Brecht gehört, ist literaturgeschichtlich sicher mehr als eine Fußnote wert.“ Darüber hinaus: Bei von Sternburg wird der Schriftsteller in seiner ganzen facettenreichen, auch widersprüchlichen Persönlichkeit erkennbar. Bis hin zu seinen nicht immer ganz so sympathischen Zügen, seiner Eitelkeit, seiner Geschäftstüchtigkeit, seiner Spielleidenschaft und seinen abwechslungsreichen Beziehungen zum schönen Geschlecht, die ihm heute im Boulevard sicher das Etikett eines womanizers einbrächten. Nicht so aber natürlich bei einem seriösen Biographen wie von Sternburg, der auch diese Aspekte zwar durchaus detailliert, aber mit abwägendem Feingefühl behandelt. Ohne die komischen Aspekte zu unterschlagen: „Eiertanz zwischen 3 Frauen.“ (Notat Feuchtwangers in seinem Tagebuch, 1.10.1935)
Feuchtwanger gilt bis heute zuvorderst als Ausnahmekönner im Genre des historischen Romans. Dabei hat Kritiker wiederholt sein freier Umgang mit historisch Verbürgtem, inklusive der – dramaturgisch begründeten – „Umdatierung“ von Ereignissen irritiert. Diese Eigenheit wurzelte aber zutiefst in Feuchtwangers Genreverständnis, zu dem er sich auch literaturtheoretisch geäußert hat – etwa in seinem Essay „Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans“ von 1935 und in seinem nachgelassenen Fragment „Das Haus der Desdemona“. Dem Schriftsteller, der sich überhaupt nicht als belletristischen Historiker empfand, ging es nie darum, wie von Sternburg schreibt, „eine frühere Epoche besonders wirklichkeitsgerecht darzustellen“. Sein Credo, mit Feuchtwangers eigenen Worten aus „Das Haus der Desdemona“, lautete vielmehr: „Echte Dichter haben auch in ihren Schöpfungen, die Historie zum Gegenstand hatten, immer nur Zeitgenössisches aussagen wollen, ihr Verhältnis zur eigenen Zeit, ihr erlebtes Erkennen, wieviel von der Vergangenheit in der eigenen Zeit atmet.“ Dieser, seiner Zielstellung hatte er auch bereits in dem erwähnten Essay Ausdruck verliehen und dort darüber hinaus postuliert: Im gegen Gegensatz zum Wissenschaftler hat […] der Autor historischer Romane das Recht, eine illusionsfördernde Lüge einer illusionsstörenden Wahrheit vorzuziehen.“
Ansonsten hat Feuchtwanger die Zeit, die Fakten und den historischen Kontext seiner Stoffe aber stets sehr akribisch recherchiert. Der Leser muss also nicht einer eigenen Erfahrung des Künstlers folgen, die so zustande kam: „Ein anderes Mal beteiligte ich mich, vertrauend auf meine formale Geschicklichkeit, an einem Preisausschreiben für ein Anglerlied, ohne dass ich je geangelt hätte, und gewann den zweiten Preis. Diese Geschehnisse ließen schon in jungen Jahren eine gewisse Skepsis in mir reifen.“
Eine der großen geschichtlichen Fragen, die schon in einem Frühwerk Feuchtwangers, dem 1918/19 entstandenen Drama „Thomas Wendt“, im Zentrum steht und die ihn lebenslang beschäftigt hat, wie von Sternburg sehr detailliert nachzeichnet, war die nach der Berechtigung von revolutionärer Gewalt bis hin zum Terror im Kampf für eine bessere Welt.
Von seiner bürgerlich-liberalen Grundeinstellung her hätte es Feuchtwanger entsprochen, diese Frage klar zu verneinen. Zumal er auch ein „Gespür für die unberechenbare Reaktion der Massen“ hatte und „ihre (der Arbeiterschicht – A.M.) Verführbarkeit […] nicht ohne Misstrauen“ betrachtete.
Andererseits lässt Feuchtwangers Geschichts- und Gegenwartskenntnis beziehungsweise -erkenntnis ihn Benjamin Franklin in „Die Füchse im Weinberg“ (1947) die Worte in den Mund legen: „Ich fürchte, Freiheit und eine bessere Ordnung wird sich nirgends in der Welt ganz ohne Gewalt und Unrecht herstellen lassen.“
Was diese zutiefst gegensätzliche Konstellation von Neigung und Erkenntnis für Persönlichkeit und Schaffen Feuchtwangers bedeutete, hat von Sternburg folgendermaßen zusammengefasst: „Es bleibt das Dilemma seiner künstlerischen, seiner geistigen Existenz: Die Revolution als Rechtfertigung für die Vernichtung von Menschen ist in der Theorie leicht zu verteidigen — und von gewissenlosen Machtmenschen skrupellos zu verwirklichen, wie es die Diktatoren des 20. Jahrhunderts vielfach bewiesen haben. Den Künstler und aufgeklärten Moralisten jedoch stürzt die Wahl zwischen Tun und Nichttun, zwischen der Entscheidung für die Revolution und damit der Ermordung zahlloser unschuldiger Menschen und der Verweigerung revolutionären Handelns, das Unterdrückung und Ausbeutung verhindern könnte, in einen unlösbaren Konflikt.“
Nicht spannungsfrei verliefen Leben und Schaffen des Künstlers nicht selten aber auch direkt wegen seiner Werke, mit denen er sich zum Teil Anfeindungen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern zuzog.
Der 1930 erschienene Roman „Erfolg“ brachte ihm, dem kämpferischen Antifaschisten, den lodernden Hass der Nazis ein. Auf der ersten Liste, mit der sie nach ihrer Machtergreifung missliebige Deutsche ausbürgerten, war Feuchtwanger die ehrenvolle Nummer Sechs, musste aber nach Kriegsbeginn während seiner Internierung in Südfrankreich um sein Leben fürchten, da ihm bis zur gelungenen Flucht die Auslieferung durch das profaschistische Vichy-Regime drohte.
Feuchtwangers Titel für den heute unter „Die Füchse im Weinberg“ (1947) bekannten Roman lautete „Waffen für Amerika“. Das und des Autors differenzierte Geschichtsbetrachtung, die der Moskauer Orthodoxie nicht entsprach, vielleicht aber auch die Gesamtauflage von 600.000 Exemplaren, die allein eine amerikanische Buchgemeinschaft schon bis 1948 auf den Markt gebracht hatte, bewogen eine sowjetische Rezensentin, Feuchtwanger abzukanzeln, er habe „einen Propagandaroman für das imperialistische Amerika geschrieben“. (Feuchtwanger hatte in der UdSSR seit den 1930er Jahren eine sehr große Leserschaft.)
Aber kein Buch brachte ihm so lang anhaltende Schelte bis hin zu übelster Nachrede („Laureatus unter den deutschen Sowjetagenten“) und einen über den Tod hinaus geschädigten Ruf als „Lügner“ und Märchenerzähler“ ein wie sein Reisebericht „Moskau 1937“ – „eine schmale Broschüre voller Ungereimtheiten und Irrtümer über die gesellschaftliche und politische Lage im Reich Stalins“, wie von Sternburg zusammenfasst.
Feuchtwangers Kollege André Gide, der die UdSSR einige Zeit zuvor ebenfalls auf Moskauer Einladung hin besucht hatte, veröffentlichte hernach zwei Bücher, die in dem Verdikt gipfelten, dass er bezweifele, „dass in irgendeinem anderen Land heute, und wäre es Hitler-Deutschland, der Geist weniger frei ist, mehr gebeugt wird, […] terrorisiert und unterjocht“. Feuchtwanger hingegen lieferte – auch als bewussten Kontrapunkt zu Gide, wie nicht zuletzt sein gegen diesen gerichteter Essay „Der Ästhet in Sowjetrussland“ (1937) deutlich macht, eine peinliche, lobhudelnde Eloge ab. Die wirkt, bei allen kritischen Untertönen, die sie auch enthält, als wäre sie direkt vom sowjetischen Propaganda- und Desinformationsapparat verfasst worden. Von Sternburg vergibt dazu das eher zurückhaltende Prädikat „sehr ‚beschönigend‘“.
Andere haben später durchaus plausible Erklärungen dafür geliefert, wo Feuchtwanger zu seinen Motiven öffentlich selbst geschwiegen hat. So schreibt von Sternburg zutreffend, „dass der bürgerliche Humanist in der Sowjetunion den entschiedensten Gegner der Faschismus zu erkennen glaubt und im Marxismus eine diskussionswürdige Alternative zu dem von Krieg und Krise gezeichneten Kapitalismus sieht“. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nicht zuletzt, wie Hans Dahlke, auf dessen Arbeiten auch von Sternburg wiederholt Bezug nimmt, in einem Nachwort zu Feuchtwangers, 1982 im Aufbau-Verlag erschienen Buch „Der Teufel in Frankreich“ vermerkt, dass Feuchtwanger „für den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag […] damals ein weit größeres Verständnis auf[brachte] als viele andere emigrierte Hitlergegner“.
Bei von Sternburg endet die Darstellung dieses Kapitels mit der Feststellung: „Feuchtwanger hat sich bis zu seinem Tod öffentlich nie von seinem Moskau-Buch distanziert.“ Mag sein, wie von Sternburg schreibt, dass der Schriftsteller im Kalten Krieg dem Westen keine antisowjetische Munition liefern, aber auch das weitere Escheinen seiner Bücher im Osten nicht gefährden wollte. Dass Feuchtwanger dafür einen spürbaren persönlichen Preis gezahlt hat, ist zutreffend: Seinen Einbürgerungsbemühungen in den USA war bis zu seinem Tode kein Erfolg beschieden; er galt den zuständigen Behörden – zu Unrecht – als Kommunist. Einladungen aus dem Ausland – zum Beispiel zur Annahme des Nationalpreises in die DDR – konnte er daher nicht Folge leisten, wollte er nicht riskieren, dass ihm, wie es Charly Chaplin ergangen war, die Wiedereinreise verweigert wurde und er damit zum dritten Mal in seinem Leben sein Heim samt allem Zubehör verloren hätte.
Dass Feuchtwanger allerdings gegen Ende seines Lebens – zumal nach den Enthüllungen des XX. Parteitages der KPdSU 1956 über die monströsen Verbrechen des Stalinismus – nicht einmal „nichtöffentlich“ über sein Sowjetunion-Bild reflektiert ´haben sollte, ist kaum vorstellbar. Selbst die Mitteilung des Biographen jedoch, dass in den heute zugänglichen Quellen nichts dazu zu finden sei, wäre aus Sicht der Rezensentin von Interesse gewesen. Aber hier könnte bei einer nächsten Auflage ja nachgeliefert werden …
Wilhelm von Sternburg: Lion Feuchtwanger. Die Biographie, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 543 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Gabriele Muthesius, Lion Feuchtwanger, Roman, Wilhelm von Sternburg